Gasse

Ein Klassiker am Sonnabend


Es wurde langsam dunkel, da schaltete ich gestern Abend die Stereo-Anlage ein. Kurz darauf gab es sonderbare Laute aus den Boxen. Zumindest empfand das unser Kater so, denn er schaute irritiert. Normalweise war das Abspielen von Gesprochenem mit flackernden Bildern verbunden, die es heute aber nicht gab. Eine Damenstimme kündigte an, dass die Geschichte des Passagiers vom 1. November erzählt werden würde. Ein Hörspiel.

Einer meiner besten Freunde würde mich wahrscheinlich ungläubig anschauen, wenn ich ihm erzählen würde, dass ich gestern mein erstes Hörspiel seit meiner Schulzeit gehört habe. Er betreibt seit Jahr und Tag die Hörspielseite valaquenta.de und ist im Hinblick auf Hörspiele genauso enthusiastisch wie ich es im Bezug auf Simenon bin. Wir unterhalten uns durchaus über Geschichten, die er gehört hat. Aber oft hatte ich diese gelesen.

Unter dem Aspekt »Simenon« habe ich auf diesen Seiten durchaus über das Thema Hörspiele und Hörbücher berichtet und Informationen gesammelt. Hörbücher habe ich mir vereinzelt angehört, aber Hörspiele waren überhaupt nicht in meinem Fokus. Nun, das wird sich ändern.

Nah an der Vorlage

Ein junger Mann trifft in La Rochelle ein. Man erfährt nach und nach, dass er aus Trondheim anreiste. Dort war er aufgewachsen. Seine Eltern verstarben bei einem Unfall und nun kehrte er in die Heimat seiner Eltern zurück, die ihm gänzlich unbekannt war. Der junge Mann namens Gilles musste sich nicht nur damit arrangieren, das alles kalt und ungemütlich war (viel besser konnte das in Trondheim auch nicht sein), sondern auch damit, dass er ganz allein war.

Er plante seine Tante zu besuchen und verhielt sich sehr zögerlich, schüchtern – allerdings war er kurz darauf Mitten im La Rocheller Leben. Kurz gesagt: Kaum ist er da, ist er schon der Erbe eines riesigen Vermögen. Hört sich nicht schlecht an, wünschte man sich wahrscheinlich auch. Die Sache hat nur einen riesigen Haken: Gilles stand auch im Epizentrum einer Intrige, die sich anfangs überhaupt nicht überblicken lässt.

Zumindest für den erste Teil, den wir bisher hörten, kann man sagen, dass die Umsetzung sehr vorlagennah erfolgte. Nichts mag ich weniger, als wenn mir eine bekannte Geschichte unter dem gleichen Titel ganz anders erzählt wird. Die Geschichte ist ohne Längen inszeniert und durchweg spannend.

Bekannte Namen

Eine bekannte Schauspielerin ist mit von der Partie: Inge Meysel. Die Generation der 70er dürfte sie noch kennen, danach dürfte es schon schwieriger werden. Die anderen Namen auf der Liste dürften vollständig dem Vergessen anheim gefallen sein oder nur noch Spezialisten und Liebhabern bekannt sein. Wem sagt der Name Hanns Lothar etwas, der zur damaligen Zeit ein sehr beliebter Schauspieler gewesen war? Die Zahl seiner Filmarbeiten ist wohl nur deshalb nicht so beachtlich, da er mit 37 Jahren schon sehr früh verstarb. Walter Richter, der den Reeder Plantel spricht, war ebenfalls ein bekannter Schauspieler – unter anderem spielte er zwölf Jahre lang den Tatort-Kommissar Paul Trimmel. Man möge mir verzeihen, dass ich ihn nicht kenne und beurteilen kann, zu der Zeit erlaubten mir meine Eltern den Tatort nicht und die wenigen Male, die ich ihn bei den Großeltern sehen durfte, war ich schon vom Vorspann ausreichend verschreckt.

Ich könnte die anderen Namen der Darsteller durchgehen und ich bin mir ziemlich sicher, dass man in Verbindung mit deren Biographien immer wieder lesen wird »bekannt«, »bekannt«, »bekannt«.

Renommierte Macher

Es hört aber bei den Namen der Darsteller nicht auf. Auch die Bearbeitung des Hörspiels geht auf eine Persönlichkeit zurück. Fred von Hoerschelmann, der sich nicht nur aus ASCII-Zwecken mit oe schreibt, stammte aus Estland. Mitte der zwanziger Jahre machte er sich einen Namen bei deutschen Zeitungen, in denen er seine Erzählungen veröffentlichte. Später begann er dann an der Arbeit an Hörspielbearbeitungen. Mitte der dreißiger Jahre ging er zurück nach Estland und arbeitete an Theaterstücken, bevor er eingezogen wurde. Nach dem Krieg wandte er sich wieder den Hörspiel-Bearbeitungen zu, wobei er Wert darauf legte, die technischen Möglichkeiten, die das Medium hergab, auch zu nutzen – so kann man ihn als Innovator in der Szene betrachten.

Regie führte bei dem Stück Fritz Schröder-Jahn, der seine Karriere als Schauspieler begann, bevor er in das Regie-Geschäft wechselte. Schröder-Jahn war »1. Regisseur des NDR«. Seine Stücke waren preisgekrönt und so erhielt er vier Mal den Hörspielpreis der Kriegsblinden.

So kommt es wohl auch zu der preisenden Rezension, die im Oktober 1956 in der ZEIT erschien:

Was die Sendung hielt, wurde schon im Programmheft durch drei Namen versprochen: Georges Simenon literarischer Vater des Polizeikommissars Maigret, als Verfasser des zugrunde liegenden Romans, Fred von Hoerschelmann als Funkautor und Fritz Schröder-Jahn als Regisseur. Hinzu kam die geheimnisvolle Geige des Helmut Zacharias sowie ein erlesenes Team von Sprechern.

Das alles ist kein bloßer Kriminalreißer, in dem die Aufdeckung eines konstruierten „Falles“ eiskalt und geistreich zelebriert würde, sondern ein Hörspiel, das zwar keinen Augenblick aus dem Bann der Spannung entläßt, das aber mit echtem Leben angefüllt ist und also mit törichten, gehässigen, rechtschaffenen, eitlen, liebenden – mit atmenden Menschen.

Vielleicht ist es das Erlebnis des »ersten Mals« gewesen – aber wir saßen still im Wohnzimmer und lauschten den Stimmen. Schauen wir Fernsehen, dann beschäftigen wir uns durchaus auch mit anderen Sachen. Hier gab es nur die volle Konzentration auf die Geschichte.

Was mich überaus überraschte war die hohe Qualität der Aufnahme. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich Rauschen und Knarzen erwartet. Die Befürchtungen waren völlig überflüssig, kein Misston störte diese Premiere.

Interessante Tatsache am Rande

Diese Geschichte wurde drei Jahre vorher vom Südwestfunk produziert. Die ARD existierte zu dem Zeitpunkt schon drei Jahre, mit der Koordination war es aber noch nicht soweit her. Während man dieses Stück in der Box »Maigret & Co.« findet, ist das andere Hörspiel im Augenblick nicht erwerbbar. Sollten Sie auf die Idee kommen, bei dem großen Anbieter für alles – Amazon – nach dem Hörspiel-Titel zu suchen, bekommen Sie die Möglichkeit, die Titel einzeln zu laden, was ein sehr kostspieliges Vergnügen wäre. Warum sich die Algorithmen von Amazon meinten, mir mittendrin auch noch ein Modellflugzeug der Lufthansa anzubieten zu müssen, erschließt sich mir nicht – sorgte aber für Kichern.