Bildnachweis: Die Bühne und Simenon - - Bearbeitung: maigret.de
Andersherum
Als Kind habe ich Reisen im Wohnzimmer unternommen. Dazu zählten jetzt nicht die, bei denen der Tisch zu einer Lok umfunktioniert wurde. Es waren die, bei der ich mir einen Meyers-Band schnappte, die Leipziger Edition, und Lemma eroberte. Ständig musste ich die Bände tauschen, um den Spuren zu folgen. Heute ist das einfacher, der Bände-Tausch höchstens mit Sprachwechseln vergleichbar.
Eine Wissenswelt ohne Wikipedia kann ich mir gar nicht mehr vorstellen. Das »Reisen« ist auch viel einfacher, denn schon auf der Startseite gibt es verschiedenste Verlockungen – zum Beispiel eine Rubrik mit dem Namen »Schon gewusst?«. Natürlich habe ich das meiste nicht gewusst! Gestern stand dort zum Beispiel »Einen Tag lang singend Kühe melken gab Grace Moore den Rest in ›The King Steps Out‹.« Ich las meiner Frau einen Teil der Rezeption vor, in der ein Kritiker mit den Worten zitiert wurde, dass er die Geschichte als »dürftig« empfand und das jedoch nur, wenn man wohlwollend wäre. Gefolgt von der Bemerkung: »Wie man sie bezeichnen müsste, wäre man nicht wohlwollend, ließ er offen.« Offenbar war dieser Kritiker sehr angetan von den Gesangskünsten von Grace Moore und – früher hätte ich dann aufspringen müssen – mir sagte der Name überhaupt nichts. Wenn er Ihnen auch nicht bekannt ist, stellt das kein Drama dar – die Dame trat in acht Filmen auf und tauschte anschließend die Leinwand mit der Opernbühne.
Die amerikanische Künstlerin starb bei einem Flugzeugabsturz in Kopenhagen. Damals flog noch nicht Hinz und Kunz, weshalb die Wahrscheinlichkeit, dass bei einem solchen Unglück ein oder mehrere Prominente ihr Leben lassen mussten, nicht sehr gering war. Bei dem Absturz der Douglas DC-3C starb auch ein Mitglied des schwedischen Königshauses, weshalb Staatstrauer sowohl in Schweden wie in Dänemark angeordnet wurde. Und wer weiß, wer in dem Flugzeug noch von der sogenannten B- oder C-Prominenz saß?
Ich folgte den Links und stieß auf die Information, dass in den acht Tage zuvor insgesamt sechs Maschinen des Typs abgestürzt waren und über sechzig Menschen dabei ums Leben kamen (genauer kann es nicht gesagt werden, da von zwei Abstürzen die Opferzahlen fehlten). Nur Hartgesottene dürften in den Tagen ohne Herzklopfen in Maschinen dieses Typs eingestiegen sein.
Das mag Sie nun interessieren, oder auch nicht. Das schöne an diesem Lexikon-Eintrag war, dass er einen Link zu einem Artikel der Zeitung »Neues Österreich« beinhaltete. Diese erschien von 1945 bis 1967. So führte der Verweis nicht direkt zu dem (nicht mehr existenten) Zeitungshaus, sondern in das Archiv der österreichischen Nationalbibliothek. Dort kann in dem Zeitungsarchiv herumstöbern – und das gratis.
Wer möchte raten, nach wem ich zuerst gesucht habe, nachdem sich mir die Quelle erschlossen hat?
... für Theater und Gesellschaft
Vor über zwei Jahren wurde vom Kampa-Verlag der Band »Vom Wasser aus« mit Reportagen Simenons angekündigt. Der Inhalt war keine große Überraschung, denn die Auswahl war zu erwarten. Ein Großteil der angekündigten Beiträge war zuvor schon in deutscher Sprache erschienen. Was elektrisierte, war der Teil, der bisher in Deutschland unveröffentlicht ist wie auch die Mitteilung, dass es Fotografien von Hans Oplatka in dem Buch zu sehen gäbe.
Für den damaligen Beitrag wurde recherchiert, um wen es sich handelt. Das Weitere würde sich ergeben, wenn der Band erscheint.
Tat er jedoch nicht.
Da die Reportagen neu übersetzt worden sind, ist davon auszugeben, dass das Buch nicht in den Archiven des Verlags verschwunden sind. Bisher wird aber nicht preisgegeben, wann der Titel erscheinen wird. Auf der Webseite ist nur zu lesen, dass der Erscheintermin unbestimmt wäre.
Das freudige Erstaunen, das mich überkam, als ich in dem Archiv nun nach dem Schriftsteller suchte und als erste Erwähnung einen Zeitschriften-Artikel aus dem Jahr 1931 fand, lässt sich gut vorstellen. Bei der Publikation handelte es sich um »Die Bühne«, einer Zeitschrift für Theater und Gesellschaft.
In der Reportage selbst geht es um Simenon als Person, um seinen Umgang, um seinen Habitus. Er würde, so heißt es, Detektivgeschichten schreiben. Von Maigret weit und breit keine Spur, geschweige von seinem weiteren Werk. Aus der heutigen Perspektive würden wir sagen: Aha, das ist ja sehr interessant! Aber damals haben sich die Leser:innen des Magazins wahrscheinlich gefragt: Warum wird uns das erzählt?
Der Beitrag ist deshalb überraschend und vielleicht auch irritierend, da Simenon zu der Zeit in den deutschsprachigen Landen ein Unbekannter war. Seine Werke sollten erst drei Jahre später in deutscher Sprache erscheinen.
Aus heutiger Perspektive ist zudem interessant, dass die Rollen vertauscht waren, denn als Autor des Artikels wird Hans Oplatka genannt. Simenon hatte ein paar Fotografien beigesteuert.
Sim im Mittelpunkt
Leser:innen der Reportagen begleiten den Schriftsteller an einem Sonntagmorgen. Zu der Zeit lebte er mit Tigy sein Leben auf der »Ostrogoth« – und da gibt es gleich den ersten Erkenntnisgewinn: Der Autor macht sich darüber Gedanken, warum die Barbaren im Osten »Vandalen« genannt werden, im Westen aber »Ostgoten«. Just von diesen westlichen Barbaren kommt der Begriff »Ostrogoth«. Simenon betritt die Szenerie und wird von Oplatka als muskulös beschrieben und ungestüm – er mutmaßt, dass der Schriftsteller beschlossen hätte, nicht nur die Ostgoten zu geben, sondern gleichzeitig auch den Franzosen.
An Bord frühstückt an dem Tag eine Verlegerfrau namens Greve, das Gespräch wird von Tigy gelenkt, von der berichtet wird, dass sie sehr gewandt in Gesellschaftsangelegenheiten war. Simenon zeigte noch Fotos von seinem Boot her und dann geht er auf Exkursion in der Nähe.
Wem immer er begegnet, Simenon hat ein Wort übrig. Die Leute nennen ihn Sim, er ist wahrlich kein Unbekannter. Es geht um Weinmagnaten, Millionäre und mit allen kann der Schriftsteller prächtig umgehen. Das Lieblingsthema zu der Zeit, und Hans Oplatka ist der Meinung, dass dies immer ein Thema für die Franzosen war, war der aufziehende Krieg. Sie sollten ja recht behalten mit der Katastrophe, die im Anmarsch war, allerdings brauchte sie länger als die prognostizierten drei, vier Jahre.
Es ist Sonntag und der Reporter konnte beobachten, wie sich die »Ränge« – sprich das Ufer – langsam füllen. Die Pariser zog es auf Land, mancher ging ins Wasser, mancher schaute nur zu, wie andere in der Seine plantschten. Von den Müttern wäre manchmal zu hören gewesen, dass die Kleinen ja nicht ins Tiefe gehen sollen – aber bei Weitem nicht so oft, wie man es an einem Donaustrand vernommen hätte. Und die Pariser konnten Simenon dabei beobachten, wie er sein Vergnügen hatte:
Sim freut sich unheimlich, wenn so viel Millionäre ihm an einem Tag die Hand reichen und wenn man ihm von allen Seiten: »He, Sim! Wie geht's? Schönes Wetter heute!« zuruft. Er fühlt sich wie ein Gymnasiast, der der beliebteste Schüler in seiner Klasse ist, zu dem man von allen Seiten kommt und zuruft: »Hallo! Wann wirst du das nächstemal den Pospisil verprügeln? Hast du die Lateinvokabeln schon? Ich kann sie dir borgen!« Noch dazu ist seine Klasse die höchste Klasse in Frankreich, die Klasse der Seinemillionäre. Sim wühlt in seinen Freundschaften wie ein Geizkragen im Gold.
Verlass
Mich würde interessieren, ob es anderen Leser:innen dieser Reportage auch so geht: Manches ist nicht leicht verständlich. Den Gedankengängen konnte ich nicht immer folgen, so als ob der Korrektor schon mit dem Heurigen unterwegs gewesen war. Vielleicht ist es auch ein spezieller Stil, eine Schreibweise, die heute nicht mehr gängig ist. Interessierte können sich selbst ein Bild machen. Da der Link in eine Bibliothek verweist, bin ich guter Hoffnung, dass dieser Verweis fast bis in die Ewigkeit funktioniert.
Interessant ist diese Reportage schon deshalb, da sie zeigt, wie früh sich Simenon mit seinen »Connections« darum gekümmert hat, dass er auf anderen »Märkten« ins Gespräch kam. Auch wenn er dort noch nicht präsent war, bestand doch eines Tages die Chance, dass sich jemand erinnerte: »War das nicht der Typ, der mit Millionären aß?« Gutes Marketing, das lässt sich ohne Zweifel festhalten.