Maigret schaut in die Nacht

Wer ist der Assessor?


Liest man nur und folgt der Geschichte, dann hat man wenig Probleme. Untersucht man jedoch den Text, dann bleibt man an Wörtern hängen, die man ansonsten übersprungen oder hingenommen hätte. Das Problem verschärft sich, wenn man ein Register aufbaut. In dem Fall lässt sich ein Wort nicht einfach beiseite schieben, sondern gehört untersucht, denn es soll richtig einsortiert werden.

​Nehmen wir das Wort Assessor. Wenn ich das Wort bisher gehört habe, dann dachte ich an jemanden, der irgendwie was mit ... zu tun hat, auf jeden Fall irgendwie mit dem Staat oder so. Wie man sieht, hätte ich es nicht exakt benennen können. Es ist beim Lesen auch egal, weil in diesem Fall kommt ein Mann mit einem anderen Mann, der ebenfalls den Mord formell untersucht, aus dem Haus des Mordopfers und viel mehr muss ich gar nicht wissen. Da sich derjenige mit Ernest Grandmaison, dem Bürgermeister, angeregt unterhält, wird er kein kleines Licht in der Hierarchie sein. Mehr muss ich als Leser nicht wissen.

Als ich nun aber einen Register-Eintrag für den Herren anlegen wollte, stellte sich mir die Frage: Was ist denn ein Assessor? Hat er eine herausragende Funktion oder ist ist es nur ein schicker Begriff für einen Beamten? Ein anständiger Titel ist niemals zu verachten.

Sinnsuche

Der Begriff findet sich durchaus in der Wikipedia und es ist eine erkleckliche Anzahl von Wörtern herausgekommen, um niederzulegen, wer sich wann, warum und wo mit diesem Titel schmücken darf. Da wir es hier nicht mit Agrar- oder Forstwissenschaft, Bergbau oder Archivwesen zu tun haben, sondern mit Jura, lässt sich das kurz zusammenfassen: Ein Assessor ist jemand, der als Volljurist gilt, aber weder in die Anwaltskammer eingetreten ist oder noch nicht in den öffentlichen Dienst eingetreten ist.

Der Begriff ist ein wenig veraltet und wird nicht mehr besonders häufig verwendet. Es braucht noch eine Weile, bis er ganz und gar antiquiert ist. Er ist aber gut im Rennen, gemeinsam mit den Worten Fax (was aber wirklich nicht sehr alt werden wird) und Tonbandgerät.

Quellensuche

Eigentlich hört sich das Wort so an, als könne man das auch gut im Französischen verwenden. Nur schwindet die Bedeutung, die mit diesem Wort verbunden ist im Französischen, denn das Wort »assesseur« bedeutet hier »Beisitzer«. Kurz zusammengefasst: Der Chef ist ein anderer. Also gibt es zum Beispiel »juge assesseur«, und das wäre der beisitzende Richter, andere Wortzusammensetzungen ergeben Wahlhelfer oder Schöffe.

Ich übersetze mal die Erklärung aus der französischen Wikipedia: »Ein Assesseur ist eine Person, die einer anderen Person beigeordnet ist, um sie bei deren Aufgaben zu unterstützen und sie gegebenenfalls zu ersetzen.« Das ist das Verständnis in Frankreich von einer Person mit einem solchen Titel.

Stellt sich die Frage, warum sollte denn eine solche Person aus dem Haus von Kapitän Joris kommen? Sowohl in der Diogenes-Ausgabe wie auch in der aktuellen Kampa-Ausgabe ist von einem Assessor die Rede. Meine erste deutschsprachige Ausgabe von 1951 (»Nebel über dem Hafen«) spricht an der Stelle von einem Richter. Also half doch nur der Blick in das Original. Ein wenig überraschend, tauchte dort weder das Wort »assesseur« noch »juge« auf.

A trois heures, la descente du Parquet était terminée et une dizaine de messieurs sortaient de la maison de Joris. [...]

​Es kommen die Vertreter der Staatsanwaltschaft aus dem Haus. Ich habe mir schon die Zähne an »la descente« ausgebissen, denn die wörtliche Bedeutung wird mit »Abstieg« oder »Talfahrt« angegeben – abgesehen von Bedeutungen in der Luftfahrt und zahllosen im Sport. Aber die Richtung steht wohl fest: nach unten. Insofern ist es nicht der Staatsanwalt, der kam, sondern ein Vertreter.

Das wird im Nachfolgenden noch deutlicher:

»Il doit y avoir du canard en quantité!« disait le substitut à M. Grandmaison en observant les terrains d'alentour.

​Hier fällt zum einen auf, dass von »le substitut« die Rede ist, was dankenswerterweise mal wirklich sehr eindeutig ist und »Ersatz« meint, womit man wieder beim Vertreter eines Staatsanwaltes ist, allerdings nicht bei einem Assessor.

Zum anderen (und damit verlassen wir das Thema »Assessor«) wird von »M. Grandmaison« gesprochen, was auch in der Übersetzung völlig korrekt zu »Monsieur Grandmaison« wird, da uns die Abkürzung »M.« vielleicht irritieren würde. Allerdings fragt man sich, wo in der Kampa-Ausgabe die Höflichkeit ein paar Absätze zuvor bleibt, in der der Hafenmeister einem Kapitän zuwinkt:

Und Delcourt winkte dem Kapitän eines abfahrenden Frachters zu [...]

​So wird es auch in der »Nebel über dem Hafen«-Übersetzung formuliert, bei der Diogenes-Ausgabe findet sich noch ein »Monsieur« mit ein. So wie es im Original auch zu finden ist:

Et M. Delcourt saluait de la main le capitaine d'un cargo qui s'éloignait, [...]

​Wenn wir schon dabei sind:

»Es war die Haltung eines Großkopfeten, […]«

Da war ich schon ein wenig irritiert, als ich in der Kampa-Ausgabe einen Begriff las, der sehr regional verwendet wird – in Bayern und in Österreich. Auch bei der Gelegenheit habe ich mal nachschlagen müssen, was exakt damit gemeint war. Auch wenn ich den Begriff verstanden habe und das Nachschlagen mich nur bestätigte, finde ich, dass die Verwendung hier so gar nicht passt. Zumal wir in einer maritimen Umgebung sind...