Unterschrift

Seite 158


Das frisch ausgelesene Kapitel ist zwölf Seiten lang. Gefühlt ist das die Durchschnittslänge eines Kapitels in diesem Buch. Dieses Kapitel hat es in jeder Hinsicht in sich: Das nichts normal ist, da Krieg ist und es sich um Simenon handelt, wurde schon in den letzten Kapiteln klar. Aber zu all den Wirren auf die der Schriftsteller keinen Einfluss hatte, kommen nun noch die, die er allein sich selbst zuzuschreiben hat.

Marc kränkelte ein wenig und die Eltern waren in Sorge. Der Doktor des Dorfes empfahl für den Jungen eine Kur. Der Doktor organisierte über den ansässigen Automechaniker ein außergewöhnliches Gefährt, was Marc und seinen Vater nach La Bourboule bringen sollte, einer Bäderstadt im Puy-de-Dôme. Dort war man auf Kinderkrankheiten spezialisiert. Man packte ein paar Hühner mit ein, damit man etwas zum Tauschen hatte, wenn man Holzkohle benötigte.

Wenn man Sachen so schreibt und sich seine Gedanken macht, kommen einem die komischsten Einfälle. Meiner war beispielsweise: Das hat gut für die Hinreise geklappt, aber hatten sie auch genügend Hühner für die Rückreise dabei? Offenbar ja, denn Simenon erwähnt die Rückreise-Hühner ausdrücklich. Wurde er abgeholt oder wo hatte er die Hühner während der Kur-Zeit. Vielleicht ist die einzig wichtige Information: Geld zählte nicht mehr, Naturalien waren das Gold des Alltags.

Landung

Im Radio verkündete Radio London, dass die Landung vorbereitet würde. Die Bewohner an den Küsten mögen sich darauf vorbereiten, hieß es in den Verlautbarungen. Aber auch so bekamen die Bewohner an den Küsten mit, dass sich etwas anbahnt. Die Bombardierungen durch die Alliierten nahmen zu. Simenon berichtet in dem Kapitel, von fehlgeschlagenen Bombardierungen mit vielen zivilen Opfern – entweder handelte es sich um die falschen Städte, manchmal wurden zivile Einrichten getroffen und es gab viele Opfer unter den Einwohnern.

Bedrückender ist da noch der Bericht von Simenon, in dem er schildert, dass er beobachtete, dass ein Jagdflugzeug einen Mann auf einer Draisine beschoss, der offenbar seinen Job machte, der mit den Kriegshandlungen nichts zu tun hatte. Es wird nicht näher darauf eingegangen, aber es hörte sich nicht so an, als hätte es ein Happy-End gegeben. Bomber fliegen in großer Höhe und vielleicht haben sie sich bei der Zielwahl vertan, vielleicht auch nicht. Der Flieger, der hinter dem Mann auf der Draisine hinter her war, der hat aber bewusst gejagt und hätte sich auch bewusst sein müssen, dass sein Tun schändlich ist.

Die Entdeckung

Wenn Simenon mit einer Frau schlafen konnte, dann tat er das. Mit Boule hatte er schon seit Jahren geschlafen, es gehörte zu den täglichen Verrichtungen. Aber es waren auch zahllose andere Frauen darunter. Die folgende Offenbarung ist auch zur Zeit der Veröffentlichung keine Überraschung gewesen, Simenon hatte schon recht offen vorher darüber berichtet (erinnert sei an der Gespräch mit Fellini).

In Saint-Mesmin hielt Simenon seine Siesta und Boule lag, wie wohl so oft, bei ihm.

Nun, während unseres gemeinsamen Lebens »betrog« ich sie fast jeden Tag, oft mehrmals am Tag, nicht nur mit Boule, sondern mit Hunderten von Frauen.

Mit »fast jeden Tag« ist dann wohl auch Boule gemeint.

Mir ist nicht ganz klar, warum Simenon das Wort betrog in Anführungszeichen setzte. Selbst bei bestem Willen ist nicht zu sehen, wie Simenon noch Jahre später der Meinung sein konnte, dass er seine Frau nur angeblich – darauf deuten die Anführungszeichen hin – betrogen hätte. Er hinterging mit jedem einzelnen Geschlechtsakt seine Ehefrau. Vielleicht war es nur ein Gefühl, das er hatte, das es in Ordnung sei, wenn er mit jeder Frau, die sich ihm hingab, auch schlafen würde. Seine Lebenserfahrung hätte ihm aber sagen müssen, dass das wohl nicht hinhaut.

Wie wohl es viele Jahre gut gegangen war, kam der Tag, an dem Tigy darüber zukam. Sie machte keine Szene, welche berechtigt gewesen wäre, sondern sagte ihm nur, dass sie mit ihm zu reden habe.

»Du wirst mir den Gefallen tun, dieses Mädchen sofort vor die Tür zu setzen.« Was mich sofort aufbrachte, das war »dieses Mädchen«, um einen Menschen zu bezeichnen, der uns völlig ergeben war, [...]

In dieser Position, unmittelbar nachdem man bei einem Akt der Untreue entdeckt wurde, aufgebracht zu sein, zeugt von einer gewissen Chuzpe – auch Jahre später noch. Es wird so getan, als ob das Ansinnen von Tigy völlig unberechtigt wäre. Denn ja, Boule mag der Familie sehr ergeben gewesen sein. Ohne Zweifel war sie dem Familienoberhaupt mehr ergeben als der Ehefrau. Denn es war nicht nur Georges Simenon, der Tigy hinterging, es war auch Boule.

Simenon lehnte das Ansinnen brüsk ab.

Nach kurzer Zeit kommt es zu einer Aussprache, in der Simenon eine – wie er es nennt – Generalbeichte ablegt. Simenon schreibt, dass er Tigy nie so sehr geschätzt hatte, wie in dieser Situation. Es kommt zu einer Einigung. Die Familie bleibt zusammen, man schlief im gemeinsamen Bett – berührte sich aber nicht mehr. Ein Kompromiss, damit keiner von Marc getrennt ist. Boule durfte bleiben, da es sein konnte, dass sowohl Simenon wie auch Tigy als Ausländer in Frankreich abgeholt werden würde und dann hätte Marc immer noch seine geliebte Boule.

Der Widerstand

Im letzten Abschnitt dieses Kapitel wird der Kontakt Simenons mit dem Widerstand beschrieben. Es ist der Freund, der mit Fahrrädern handelte, der den Kontakt herstellte. Es ging darum, dass die Leute vom Widerstand gern Wein hätten. Der Fahrradhändler sollte den Transport organisieren. Simenon, der sofort einverstanden war, stellte den Wein.

Als er nun die Mitglieder der örtlichen Zelle des Widerstandes kennenlernte, bietet er an, ihnen auch andere Sachen zu liefern. Butter und Geflügel konnte er anbieten und verspricht, wiederzukommen. Die Mitglieder der Résistance ziehen eine andere Lösung vor: Wie würden den Kontakt aufnehmen und ebenso für den Transport sorgen.

Als der Fahrradhändler-Freund auf ihn zukommt und ihn darauf anspricht, dass er doch ein Auto habe, darf sich Simenon ertappt fühlen. Die Deutschen hatten mit Beginn ihrer Besatzung nicht nur alle Waffen eingesammelt (zumindest haben sie es versucht), sondern auch sämtliche motorisierten und fahrbaren Untersätze requiriert. Der Mann wusste wirklich gut Bescheid. Simenon hatte sein Auto unter Stroh versteckt. Als er nun gebeten wird, das Auto für eine Gruppe von britischen Fallschirmspringern bereitzustellen (die eigentlich Franzosen waren, aber in der britischen Armee dienten) und eine Sabotage-Aktion in der Umgebung planten, gibt er diesen dafür her.

Das alles ist kein Kinderspiel gewesen war – weder die Aktionen der Widerstandsgruppe noch die der Fallschirmspringer –, und die Aktionen derer habe auch Konsequenzen auf das Leben der Zivilbevölkerung. Bei einer dieser Aktionen wurde ein deutscher Oberst erschossen. Kurz darauf marschierten die Deutschen in das Nachbardorf La Chapelle ein, vertrieben alle Bewohner und brannten die Gebäude des Dorfes nieder.

Simenon geriet kurz vor Kriegsende in das Visier einer Frau, die als »Fräulein Doktor« in der Gegend bekannt war und die mit einem Offizier bei den Simenons auftauchte. Simenon war zu dem Zeitpunkt nicht zu Hause und hielt sich im Anschluss auch versteckt, denn der Besuch der Dame verhieß nichts Gutes.