Ovationen nach der Revolution – Hitler in der Reichskanzlei

Revolution? Revolution.


Otto Braun hatte es fast geschafft. Sowohl den deutschen Zoll hatte er überwunden, als auch den belgischen. Dann jedoch kam die französische Passkontrolle und die überlebte der Mann aus Stuttgart nicht. Eine Nadel ins Herz sollte das Leben des 58-Jährigen beenden. Das rief erst einen Neffen Maigrets und in der Folge ihn höchstselbst auf den Plan. Aber warum floh Braun?

Offenbar hatte es nicht geholfen, dass der Bankier nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten sich zum deutschen Staat bekannte und einen Treueid ablegte. Es hatte ihm auch nicht weitergebracht, dass er der Parteikasse der Nazis eine Million Reichsmark gestiftet hatte. Er war Jude und das Programm der Nazis war da eindeutig. 

Musste seine Tätigkeit in der Finanz nach der nationalsozialistischen Revolution aufgeben, leistete der Regierung aber den Treueeid und gab der Polizei nie Anlass, sich mit ihm zu beschäftigen... War angeblich sehr reich ... stiftete der Parteikasse eine Million Mark...

Der Versuch, sich eine gewisse Gewogenheit erkaufen zu wollen, kann ich verstehen. Persönlich hätte ich sie nicht für besonders vielversprechend gehalten, aber im Unterschied zu Braun kenne ich den Verlauf der Geschichte und deren Verbrechen – da lässt es sich gut schnacken. Davon abgesehen glaube ich jedoch nicht, dass damals eine Polizeibehörde in Deutschland eine solche Information an die französische Polizei durchgestochen hätte. Mich würde schon wundern, wenn deutsche Polizisten von solchen Großspenden von der Partei informiert worden wären.

Auch die Geschichte mit dem Eid ist so eine Sache. Der Führer mochte es sehr, dass ein Gelöbnis auf ihn abgelegt wurde. Dafür wurde auch ein eigener Begriff geprägt: »der Führereid«. Nach dem Tod Hindenburgs wurde dafür gesorgt, dass die Truppen der Reichswehr ein Bekenntnis zu dem neuen Staatsoberhaupt ablegten. Damit waren klare Fronten geschaffen. Später gingen die Nationalsozialisten dazu über, auch von Beamten (seit 1937 als Treueeid) und Hochschulprofessoren einen solchen Eid zu verlangen. Wer ihn nicht leistete, war raus. Zu dem Personenkreis, die den Eid ablegen mussten, gehörten auch Mitglieder der SS. Aus dem, was uns in der Geschichte an Informationen gegeben wird, ist nicht herauszulesen, dass Otto Braun einer dieser Personengruppen angehörte – er mochte sich also öffentlich zu Hitler und seiner Ideologie bekannt haben, aber in Eidesform ist es nicht sehr wahrscheinlich.

Zum eigentlichen Thema

Zwei Worte in dem Absatz ließen mich noch ein wenig mehr stutzen: »nationalsozialistische Revolution«. Als eine solche hatte ich das, was man als »Machtergreifung« oder schlicht Machtübernahme, nie gesehen. Eine Revolution – da stellt man sich Barrikaden vor, wütende Menschen und vielleicht noch wehende Fahnen. Irgendwie gehen einem Bilder durch den Kopf, die geprägt sind von französischen Revolutionen. Verbunden sind damit für mich auch deren Ideale. Im Hinterkopf habe zumindest ich die Vorstellung, dass für die Mehrheit des Volkes etwas zum Besseren geändert werden sollte. So ist der Begriff »Revolution« mit Hitler schwer in Einklang zu bringen.

Vom Volk auf der Straße wurde der Regierungswechsel nicht betrieben, aber unbeteiligt war es nicht. Denn die Nationalsozialisten waren in den Parlamenten gut vertreten. Sie schlossen die passenden Partnerschaften und ihr Wirken hatte einen legalen Anstrich. Das war auch so beabsichtigt, denn das Bürgertum sollte nicht verschreckt werden. Das Wort »Revolution« wäre nicht hilfreich gewesen. Den vielen Finanziers aus dem Großbürgertum dürfte indes klar gewesen sein, was zu erwarten war. Eine Deckungsgleichheit der Interessen hat bestanden und der teilweise sehr radikale Anstrich schreckte nicht.

Lag Simenon falsch, wenn er in dem Kontext den Begriff verwendete? Nein und ja.

Da er nicht zur offiziellen Sprachreglung gehörte, ist es fraglich, ob ihn eine Behörde in einem internationalen Austausch genutzt hätte.

Anders sieht es jedoch bei der Wertung der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten aus. 

Der Wandel

Die Frage, ob es eine Revolution war oder nicht, liegt an den Maßstäben, die angelegt werden. Geht man davon aus, dass für die Durchführung einer Revolution Mut und Tapferkeit gehören, dann kann man Hitlers Coup als alles Mögliche bezeichnen, einen revolutionären Anstrich hätte es nicht. Die Einschätzung teilte zum Beispiel Sebastian Haffner, der der Meinung war, dass man als Revolutionär sein Leben riskiert oder Mut zeigt.

Trennt man die Vorstellungen, die man von einer Revolution hat, von den Barrikaden-Bildern und schaut sich die Definition an, die ein solches Ereignis beschreibt, so gerät so mancher ins Grübeln: Meist gibt es einen grundlegenden und nachhaltigen Wandel des Systems und seiner Strukturen. Ob dabei geschossen wird oder nicht, spielt keine Rolle – man betrachte die friedliche Revolution bei der Auflösung der DDR und der osteuropäischen Staaten. Das Resultat einer solchen Umwälzung ist, so sie nicht scheitert, dass die Herrschenden abgesetzt worden ist und ein anderes politisches System etabliert wird.

Als Argument, dass es sich um eine Revolution gehandelt hat, gilt oft die fehlende Legalität der »Machtergreifung«. Ein bisschen was, so sagt man unter Rechtsgelehrten, mag legal gewesen sein. Bei der Vielzahl von Verstößen, die sich die Nazis erlaubten, ist man schnell näher bei dem Umsturz-Gedanken als bei einem regulären Regierungswechsel. So haben sie eine Verfassungsänderung hinbekommen und durchaus eine Zweidrittelmehrheit zustande gebracht – was ist das jedoch für die Legitimität wert, wenn man zuvor kritische Abgeordnete verhaftet und im Sitzungssaal seine eigenen Schläger platziert? Im Reichsrat, der dem Gesetz zustimmen musste, saßen nicht die Regierungsmitglieder, die hätten abstimmen müssen. Die Liste lässt sich gewiss weiter vorsetzen.

Das Wort »Hitlerputsch« ist durch die Aktivitäten des »Führers« im November 1923 schon besetzt. Üblicherweise verbindet man mit dem Begriff Putsch ein Eingreifen von paramilitärischen Gruppen oder vom Militär selbst. Am Ende eines erfolgreichen Putsches steht eine Herrschaft der Armee oder ein autoritäres Regime. Der Unterschied zwischen einer Revolution und einem Putsch ist, dass letzterer durch eine verhältnismäßig kleine Gruppe »veranstaltet« wird; für eine Revolution bedarf es Massen. Die eigentliche »Machtergreifung« Hitlers wurde betrieben von der konservativen Elite aus Industrie und Landwirtschaft. Vielleicht war es eher ein Putsch und weniger eine Revolution.

Wahrnehmung

Die Wortwahl Simenons ist geprägt davon, dass es die Wahrnehmung eines Außenstehenden ist. Auch wenn der Schriftsteller ein wenig des Deutschen mächtig war, wird er sich in der Sprache nicht in Details beherrscht haben. 

Mir ist zum Beispiel bisher nicht zu Ohren gekommen, dass er deutsche Zeitungen studierte. Insofern stammten seine Kenntnisse über das, was in Deutschland passierte, entweder aus der Presse oder aus seinen Beobachtungen, wenn er auf Reise gewesen war.

Aus der Perspektive Außenstehender mochte das, was sich hierzulande ereignet hatte, damals schon wie eine Revolution ausgehen haben. Bemerkenswert ist, dass Juristen und Historiker hierzulande länger benötigten, um eine solche Einordnung vorzunehmen. Und auch, dass diese Wertung zwar im wissenschaftlichen Bereich eine akzeptierte Meinung darstellt. 

In der Öffentlichkeit – sprich im normalen Sprachgebrauch und in den Medien – wird dagegen nie von einer Revolution gesprochen.