Nagelmackers Vision


Erwartung und Wirklichkeit kollidieren nach meiner Erfahrung besonders dramatisch beim Thema »Schlafwagenreise«. Man erhofft sich Luxus und einem geruhsamen Schlaf, während man durch die Gegend chauffiert wird. Der Mangel an Komfort hängt gewiss am Budget, das mir zu Verfügung steht. Dafür, dass in einem Zug ebensowenig schlafen wie im Flugzeug, können die Transporteure nichts.

Georges Nagelmacker würde das, vorausgesetzt er wäre noch am Leben, nicht gern hören. Der Mann hatte sich dem Reisen im Schlafwagen verschrieben – weniger als Reisender, sondern vielmehr als Unternehmer. Die Tatsache, dass er Zweiundzwanzigjähriger in den USA das Eisenbahnwesen studieren konnte, macht deutlich, dass der in Lüttich geborene Ingenieur einer begüterten Familie entstammte. Nur die Reichen konnten sich Reisen dieser Art leisten.

Ideenklau in Amerika

Die Amerikaner bauten ihr Eisenbahn-Netz massiv aus. Die Weite des Landes und die damit verbundene Reisedauer erforderten es frühzeitig, sich Gedanken darüber zu machen, welchen Reise- und Schlafkomfort man den Passagieren bot. Die europäische Variante, einen Liegeplatz anzubieten, war da zu wenig. Ein Pionier auf dem Gebiet war der Amerikaner George Mortimer Pullman, wobei der Begriff »Pionier« an der Stelle ein wenig amüsant ist, denn so nannte der ehemalige Goldmakler Pullman sein erstes Schlafwagen-Modell. 

Pullman war nicht der Erfinder der Schlafwagen an sich, aber er war derjenige, der Komfort in diese Wagenklasse brachte. Die Wagen, die er entwickelte, waren ein Vielfaches teurer als die üblichen Waggons. Er investierte jedoch nicht nur clever in die Ausstattung seiner Reisewagen, sondern auch in das Marketing – das Geschäft lief gut für ihn. 

Der Unternehmer setzte auch anderweitig Akzente: Er ließ für seine Arbeiter eine eigene Stadt in der Nähe von Chicago bauen – alles gehörte seiner Firma einschließlich der Mietwohnungen und der Geschäfte, in denen die Arbeiter einkaufen konnten. Die Infrastruktur war modern und der Ansatz hört sich nicht schlecht an, schließlich gab es neben einer Bibliothek andere Freizeiteinrichtungen. Die Angelegenheit hatte eine Kehrseite: Zum einen mussten die Arbeiter von Pullman in dieser Stadt wohnen und zum anderen kam der Unternehmer während der Rezension von 1894 auf die Idee, die Löhne seiner Arbeiter um 25% zu senken, aber die Kosten wie Mieten und Preise zu belassen wie vor der Lohnsteigerung. Streiks und gewalttätige Proteste waren die Folge, die niedergeschlagen wurden. 1898 gab es eine Gerichtsentscheidung, dass Pullman die Stadt an Chicago abzugeben habe.

Vom sozialen Vorreiter zum Buh-Mann ist es gar nicht so weit und als Pullman 1905 starb, hatte die Familie Sorge, dass man den Leichnam stehlen würde – was für einen gehörigen Groll spricht, der gegen den Mann gehegt wurde. Sie ließen den Sarg mit Asphalt und Beton übergießen. Eine Anmerkung von Ambrose Bierce zu den Bestattungsformalien Pullmans sei mir schließend erlaubt, bevor ich zu dem Lütticher Jung zurück, der diesmal nicht Simenon sein soll:

Es ist klar, dass die Familie nach diesem schmerzlichen Verlust sicherstellte, dass der Hurensohn nicht aufstehen und wiederkommen würde.

Nagelmacker kam nach Europa zurück und wollte nicht in den Bau solcher Waggons einsteigen. Ihm schwebte der Betrieb dieser Wagen in dem bestehenden Eisenbahn-Netz vor. Schaut man sich die Struktur der damaligen Zeit an, dann sieht man schnell, dass dies gar nicht so einfach war. Zu der bestehenden Kleinstaaterei kam hinzu, dass die Netze von den verschiedenen privaten Eisenbahnfirmen betrieben wurden. Um zu gewährleisten, dass Reisende quer durch Europa reisen konnten und dabei ruhten, hatte er Verträge mit diesen Firmen abzuschließen.

1, 2, 3

Der richtige Zeitpunkt ist für den Erfolg von Unternehmen von elementarer Bedeutung: Nagelmacker hatte dies Glück anfangs nicht. Nachdem er aus den Vereinigten Staaten zurückgekehrt war, arbeitete er ein Konzept aus. Er veröffentlichte dieses als Denkschrift und als die Zeit gekommen war, den Plan umzusetzen, führten Deutschland und Frankreich gegeneinander Krieg. Unschwer zu erkennen, dass es der falsche Moment war, um eine Unternehmung zu starten, in der Länder miteinander verbunden werden sollten.

Nun hatte der junge Mann einen Vorteil: Er kam aus einer begüterten Familie. Insofern hat die deutsch-französische Auseinandersetzung seine Pläne nur aufgeschoben, ohne die Existenz zu bedrohen. Nachdem das kriegerische Unheil vorbei war, schloss er Verträge mit verschiedenen Eisenbahngesellschaften, um Schlafwagen zwischen Paris und Wien fahren lassen zu können. Nachdem das in Sack und Tüten war, gründete Nagelmacker im Spätsommer 1872 in Lüttich die »Georges Nagelmackers et Compagnie – Compagnie Internationale de Wagons-Lits« als Aktiengesellschaft. Sein prominentester Aktionär dürfte Leopold II. gewesen sein – damit lässt sich ersehen, dass der junge Mann und seine Familie keine Niemande gewesen waren.

Der finanzielle Aufwand war erheblich und so schwand das Geld des Unternehmens fix, ohne dass die Einnahmen wuchsen. Unsereiner würde vermutlich den Kopf in den Sand stecken, aber Nagelmacker suchte Investoren mit Erfahrungen und wurde fündig. William d’Alton Mann wartete auf die Gelegenheit, seinen in Amerika entwickelten Schlafwagen zu vermarkten. Dort hatte er nicht den gewünschten Erfolg gehabt, weshalb er die Fühler über den Atlantik ausstreckte. Schaut man sich die Biografie dieses Mannes an, bekommt man unweigerlich das Gefühl, ein langweiliges Leben zu führen. Egal, was man gemacht hat oder macht, wie soll man mit diesen biografischen Stationen mithalten: Zeugs entwickeln für die Armee und die dazugehörigen Patente einheimsen, das unvermeidliche Öl-Business, Verleger von Zeitungen, Versuch eine Kandidatur für den Kongress, Entwicklung eines Schlafwagen, Präsident einer Schlafwagen-Gesellschaft, Eigentümer eines Klatschmagazins und Einstieg in eine Art Erpressungsgeschäft, bei dem Prominente dafür zu bezahlen hatten, dass ihr Klatsch nicht in einer Zeitschrift erschien. Ich vergaß: Er gründete auch eine anspruchsvolle Literatur-Zeitschrift.

Mit Nagelmacker gründete Mann die »Mann’s Railway Sleeping Car Company« und wandte sich von der Fabrikation von Schlafwagen ab, hin zum Betrieb solcher. Zweiundvierzig solcher Wagen fuhren Ende 1874 durch Europa und 1875 ließ sich Mann auszahlen, ging nach Amerika zurück, während sein Geschäftspartner 1876 aus der Gesellschaft die »Compagnie Internationale des Wagons-Lits« machte. Zu dem Zeitpunkt hatte man schon über fünfzig Schlafwagen.

Der Zug

Das Geschäftsmodell der Firma wurde ab 1880 weiter ausgebaut. Statt sich auf andere Eisenbahn-Gesellschaften zu verlassen, richtete die CIWL eigene Linien ein. Es wurde dabei Wert auf Luxus und Behaglichkeit gelegt, weshalb man Speisewagen mit den Zügen führte. Ein Testlauf dafür gab es auf der Strecke Berlin – Bebra, überhaupt war die Eisenbahngesellschaft in Deutschland mit über zwanzig Kursen sehr aktiv. Aber der Blick ging weit über Mitteleuropa hinaus. Man plante eine Linie, die vom Süden Europas durchgängig in den Norden führen sollte, was aber zu der Zeit nicht realisiert werden konnte.

War 1870 zum Start das Glück der Firma nicht hold, sollte sich das in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts ändern: Die Schlafwagengesellschaft Pullmans zog sich aus Europa zurück und nun hatte die CIWL eine Situation, die Firmen besonders lieben – keine Wettbewerber.

An dieser Stelle haben sich die Leser:innen vielleicht schon gefragt, was dieser Georges Nagelmacker mit Simenon zu haben könnte, außer das die beiden in Lüttich geboren sind. Direkt gar nichts. Nagelmacker starb zwei Jahre, nachdem Simenon geboren wurde, und das noch nicht einmal in oder in der Nähe von Lüttich, sondern bei Paris.

Der Mann gab der Krimi-Welt etwas, wovon diese lange zehren konnte: den Orient-Express. 1883 sollte es soweit sein. Nachdem man mit fünf verschiedenen Eisenbahngesellschaften Verträge abgeschlossen hatte und die Politik auch damit einverstanden war, ging es am 5. Juni erstmals von Paris über  München, Wien, Budapest und Bukarest in den rumänischen Donau-Hafen Giurgiu. Von da aus fuhren die Passagiere mit einem Schiff über die Donau und setzen die Reise in einem weiteren Zug nach Warna fort. Die erste Strecke war noch nicht durchgängig. Nagelmacker machte gehörigen Wirbel um den Zug und empfahl den Gästen, sich zu bewaffnen, schließlich könnte man auf Banditen stoßen. Dazu passend fuhren Journalisten an Bord mit, um über diese abenteuerliche Reise zu berichten.

Es brauchte noch fünf Jahre, dann gab es auch einen Kurs, der von Budapest über Belgrad und Sofia nach Konstantinopel führte

Anderer Krimi-Zug

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So lässt es sich reisen ... ein Abteil des Train Bleu

Credits: ignis – CC BY-SA 3.0

Wenn man einen Zug von Calais über Paris, Dijon, Marseille, Toulon, Saint-Raphaël, Cannes, Juan-les-Pins, Antibes, Nizza, Monaco, Monte Carlo und Menton nach Ventimiglia verkehrte – an welche Klientel denkt man da? An sonnenhungrige Engländer, die etwas begütert sind – so geht es mir zumindest. Nagelmacker und seine Planer hatten Ähnliches im Sinn, als sie diese Linie 1886 unter dem Namen Mediterranée-Express ins Leben riefen.

Die Wagen wurden von der CIWL gestellt und die Lokomotiven kamen von den Gesellschaften, deren Netz genutzt wurde. Da wurde wahrscheinlich ein paar Mal umgespannt. Aber das war auf europäischen Strecken gang und gäbe. Es ist nicht besonders lang so, dass man in Frankfurt in einen Zug steigt und in Paris aus, ohne dass die Lok getauscht wird.

In »Maigret amüsiert sich« hatte sich Philippe Jave mit dem Flugzeug von Nizza nach Paris begeben. Zurück kam er mit dem Nachtzug »Train bleu« – womit wir nun endlich eine Beziehung zwischen dem Werk Simenons und dem Nagelmackers herstellen können. So wurde der Mediterranée-Express genannt, nachdem für diesen Zug 1922 neue Waggons eingeführt worden waren und diese in blauer Farbe daherkamen. Das Marketing der Eisenbahngesellschaft brauchte ein paar Jahre länger, um diesen prägnanten Spitznamen zu nutzen – erst 1947 wurde der Name offiziell. Der Zug hatte eine Reihe von Fans wie beispielsweise Sacha Guitry, Jean Cocteau, Marlene Dietrich und Coco Chanel. Cocteau war so begeistert, dass er dem Train bleu zu Ehren ein Ballett schuf – so vernarrt man erst einmal sein.

Der Zug bestand aus Schlaf- und Speisewagen, führte jedoch auch einen legendären Barwagen, welcher den Ruhm des Zuges begründen sollte. In den 30er-Jahren drängte die Front populaire darauf, den Zug einer breiteren Bevölkerungsschicht zur Verfügung zu stellen. So führte der Zug ab 1936 sowohl Schlafwagen der 2. Klasse wie auch Waggons der 3. Klasse. Der Zweite Weltkrieg sorgte dafür, dass der Betrieb eingestellt wurde und mit dem Neustart 1947 war es wieder ein reiner 1. Klasse-Wagen-Zug.

War man von Paris zur Mittelmeerküste 1890 fast einen Tag unterwegs, legte man mit der Einführung der Hochgeschwindigkeitsstrecken die gleiche Strecke  in sechs Stunden zurück. Ein Management hat in einer solchen Situation die Wahl, das eigene Produkt zu stärken oder macht das Gegenteil. Im Falle des »Train bleu« ging es in den 70er Jahren langsam bergab – da waren der Verzicht auf den berühmten Barwagen und die Entscheidung, den Speisewagen nur noch auf Teilstrecken einzusetzen. Hat man als Kunde die Wahl zwischen einen Produkt, was einen schnell und komfortabel ans Ziel bringt oder langsam, teurer und nicht mehr auf der Höhe der Zeit – die Frage, für man sich die Mehrheit entscheidet, stellt sich eigentlich nicht wirklich.

Das Ende würde ich unrühmlich nennen: Es wurde erst auf die luxuriösen Schlafwagen verzichtet, bevor man ganz auf Schlafwagen verzichtete. 2007 wurde die Linie eingestellt und der Zug ist nur noch Geschichte. Der Name mag noch verwendet werden, aber mit dem »Reise-Produkt«, mit dem es zu Ruhm kam, hat es nichts mehr zu tun. Heute wird eine Line von der russischen Eisenbahn für die SCNF betrieben.

Auftritte

Wie schon erwähnt, hatte Philippe Jave den Zug genutzt. In dem Roman hat der Zug nur kurze Auftritte:

Jave war zwar ab zwei Uhr nachmittags in Paris gewesen, aber um fünf vor acht mit dem Train Bleu von der Gare de Lyon abgereist.

An diesem Bahnhof gibt es heute ein »Denkmal«, welches an die Linie erinnert. Ganz stilgerecht hat man ein Restaurant nach dem Zug benannt.

Einen größeren Auftritt hat der Train bleu in dem Roman »Mein Freund Maigret«. Der Kommissar will mit Inspektor Pyke, der bei ihm hospitieren soll, ans Mittelmeer fahren. Die erste Wahl ist hier, wie immer bei Maigret, der Zug.

Allein hätte er sich mit einem Liegeplatz zufriedengegeben.

Mit dieser Aussage könnte man den Roman auf einen bestimmten Zeitraum datieren, wenn man wollte und wenn man historische Ak­ku­ra­tes­se bei Simenon annehmen würde. Ich habe da gewisse Zweifel, aber möchte das Spiel einfach spielen: Die Regierung der Front populaire kam 1936 an die Macht und fing an, den Eisenbahngesellschaften die Ausstattung von Zügen vorzuschreiben. Die CIWL reagierte, wie oben erwähnt, im gleichen Jahr mit einer anderen Zugzusammenstellung. Während des Zweiten Weltkrieges wurde der Betrieb eingestellt, also spätestens nach dem Beginn des deutschen Westfeldzuges 1940. In der Zeit hätte die englische Regierung gewiss auch keinen Beamten nach Paris geschickt, nur damit dieser das Kriminalhandwerk eines französischen Kommissars beschaut. Also würde diese Tatsache die Handlung auf den Zeitraum zwischen 1936 und 1940 einschränken.

Der Zug war äußerst luxuriös. Im Gang kamen ihnen wohlhabende Reisende mit eindrucksvollen Gepäckstücken entgegen. Eine Gruppe elegant gekleideter Menschen, die Arme voller Blumensträuße, begleitete eine Filmdiva zum Zug.
»Das ist der Train Bleu«, murmelte Maigret, wie um sich zu entschuldigen.

Ein gewisses Faible für Züge hatte auch Agatha Christie, schließlich hat sie nicht nur die Geschichte um den Orient-Express hinterlassen und ließ Miss Marple Zug fahrplanmäßig von Paddington abfahren, ihr achter Roman »The Mystery of the Blue Train« spielt in dem Luxuszug und damit dürfte damit ihr erster Luxus-Zug-Mord gewesen sein. Ermitteln tat in diesem Roman übrigens Hercule Poirot. Simenon kam nie auf die Idee, einen Luxuszug als Tatort zu wählen. Züge indes schon ( beispielsweise »Maigret und Pietr-der-Lette«, »Jeumont, 51 Minuten«).

Bleibt die Frage, was die von Nagelmacker Hinterlassenschaft heute so macht. Schon nach dem Zweiten Weltkrieg baute das Unternehmen mit den Bereichen Touristik und Reisebüros weitere Standbeine auf, änderte seinen Namen und seine Abkürzung ein wenig, kaufte Auto-Vermieter hinzu und wurde schließlich 1991 von der Hotelgesellschaft Accor übernommen. Die Hotel-Manager machten sich daran, dass gekaufte Schätzchen aufzuspalten, so dass die Unternehmungen in den verschiedensten Händen landeten. Schon Ende des 19. Jahrhunderts landete das Hotelgeschäft von Pullman – dem Waggon-Bauer – bei der CIWL und der französische Hotel-Konzern übernahm dieses Resort bei der Übernahme. Sie gaben die Marke ein paar Jahre später auf und reaktivierten diese 2007. Ob mal jemand im Lexikon nachgeschaut hat, was es mit dem Pullman auf sich hat, weiß ich nicht. Manager vergessen im Unterschied zu Lexika gern mal.

Von dem Unternehmen CIWL ist heute genau genommen genauso viel über wie vom Train Bleu.