Der Kalender

Maigrets Kalender


Wie das denn mit dem Kalender auf Maigrets Schreibtisch wäre, der beispielsweise in den Filmen zu sehen wäre, lautete unlängst eine Frage an mich. Ehrlich gesagt, war ich verwirrt: Der Kommissar war kein Kalender-Typ. Ganz so einfach war es jedoch nicht, denn der Kalender ist für einen Chef wie ein Maigret ein wichtiges Arbeitsutensil und manchmal bei Fällen hilfreich.

Ein Blick ins Werk war lohnenswert. Also klären wir hier die Frage, wie es mit den Kalendern in den Maigret-Geschichten aussah und schließen damit eine Lücke im Internet.

Die erste Erkenntnis

Es gibt fast keine Tage, an denen ich nicht entweder in meinen Dienst- oder in meinen privaten Kalender schaue. Im Urlaub könnte das passieren, aber da wir oft Rundfahrten machen, sollte der Terminplaner auch da nicht fehlen. Nun ist es heute leicht, man hat ihn mit dem Smartphone dabei und hat man es verloren, hat man über ein Internet-Café immer noch Zugang zu seinen Kalenderdaten. Egal, ob man das Gefühl hat oder nicht: Die Kalender-Welt geht mit dem Verlust eines Smartphones nicht unter. Bei dem klassischen Kalender, der früher gern in der Hand-, Akten- oder Manteltasche verstaut wurde, sieht es anders. Weg war weg.

Der Tisch-Kalender war da sicherer – der konnte nur verloren gehen, wenn er geklaut wurde oder das Büro ausbrannte. Passierte das, war es auch blöd. Mit unserer Kalender-Synchronisation heute sind wir wirklich sehr gut aufgehoben. Überhaupt: Hatte man einen Termin in dem einen Kalender eingetragen, musste man ihn auch in dem zweiten eintragen.

Wir sollten uns vor Augen halten, dass diese schöne neue Welt, in der Kalenderdaten von jedem Ort rund um den Globus abrufbar sind, noch gar nicht so lang existiert. Aber wir haben uns verdammt schnell dran gewöhnt.

Dafür, dass die Kalender zu Maigrets Zeit ebenso allgegenwärtig waren und er einen als Boss pflegen musste, sind sie in den Romanen unterrepräsentiert. Zumindest mich hat das erstaunt. In den Verfilmungen mochte das einen anderen Eindruck gemacht haben: Da war es eine stetig vorhandene Requisite. 

Wird Maigrets Kalender erwähnt?

Beim Durchblättern der Titel kam ich irgendwann zu »Maigret stellt eine Falle« und dachte unwillkürlich: »Wenn irgendwo ein Kalender auftaucht, dann doch hier.« Denn Maigret versuchte, ein Muster zu erkennen, wann die Serienmorde stattfanden und versuchte den nächsten Angriff zu prognostizieren. So war es keine Überraschung, dies Bemerkung des Kommissars zu finden:

»Ich habe so viel darüber nachgedacht, dass die Zahlen angefangen haben, in meinem Kopf umherzuwirbeln. Auf meinem Schreibtisch liegt ein Kalender mit schwarzen, blauen und roten Notizen. Wie für die Entschlüsselung einer Geheimsprache habe ich alle Systeme, alle Schlüssel ausprobiert. Man hat zuerst einen Zusammenhang zum Vollmond vermutet.«

Der Kalender ist hier Werkzeug, denn nur mit ihm kann er effektiv herausfinden, ob es eine Gesetzmäßigkeit in den Angriffen des Killers gab. Und er war auf seinem Schreibtisch zu finden. Die früheste Erwähnung eines Kalenders wäre demnach die Passage aus der Geschichte »Maigret im Haus der Unruhe«, denn da wird das achte Kapitel mit den Worten eingeleitet:

Der Kalender auf dem Louis-XVI-Schreibtisch zeigte: Montag 17. November.

Womit nicht nur die Frage geklärt war, ob Maigret einen Kalender besaß, sondern es gibt auch noch Aufschluss über seinen Schreibtisch. Jeder hat so seine Vorstellungen. Mir ging es bei der Betrachtung von Sekretären dieser Stil-Epoche so, dass ich überrascht war, wie überschaubar groß sie waren. Dazu kam, dass sie mit Verzierungen versehen waren und zierlich wirkten. Das passte nicht zu einem Kerl wie Maigret (es sei denn, er wird von Heinz Rühmann präsentiert). In Filmen und Serien werden seine Schreibtische wuchtiger dargestellt, was einen guten Grund hat.

Und es gibt noch einen direkten Bezug von »Kalender« und »Schreibtisch«, der sich finden lässt. In »Maigret verteidigt sich« bekommt der Kommissar einen Brief zugestellt, bei der eher zum Präfekten einbestellt wird. Es wird kein angenehmer Termin, und der Maigret ahnt dies:

Das Blut stieg Maigret in die Wangen wie früher als Gymnasiast, wenn er zum Direktor gerufen wurde. Der 28. Juni ... er blickte unwillkürlich auf den Kalender ... war heute!

Die Formulierung, dass Maigret »auf« und nicht »zum« Kalender geblickt hat, lässt darauf schließen, dass es sich um ein Jahrweiser auf seinem Schreibtisch stand – auch wenn es nicht ausdrücklich geschrieben steht.

In der Geschichte »Maigret und sein Toter« gibt es eine Passage, die ebenfalls darauf hindeutet, dass Maigret einen Terminplaner auf seinem Schreibtisch hatte. Hier ist es jedoch nicht eindeutig:

Er hatte nämlich die Erfahrung gemacht, dass Verrückte gewöhnlich serienweise auftauchten, als stünden sie unter dem Einfluss bestimmter Mondphasen. Er würde später im Kalender nachsehen.

Dieser Gedanke kommt ihm, als er gerade am Telefonieren ist. Egal, ob er nun einen eher kleinen Schreibtisch hat oder einen größeren (den ich ihm gönnen würde), ganz sicher wird er das Telefon auf diesem stehen haben. Da sollte auch der Kalender stehen. Dieses »später nachsehen« ist ein Hinweis darauf, dass der Kommissar sich entweder ganz seiner Anruferin widmen möchte – oder, das ist die weniger günstige Interpretation, nicht multitaskingfähig war.

Die Erleuchtung

Es gibt einen Fall, in dem ein Kalender sogar zur Erleuchtung führte. Zugegeben, es war nicht der, der auf dem Schreibtisch am Quai des Orfèvres stand. Wenn es aber schon um so ein profanes Hilfsmittel wie den Terminplaner geht, so sollte seine herausragende Bedeutung nicht verschwiegen werden. In »Maigret contra Picpus« grübelten die Polizisten darüber, was es mit diesem Picpus, der eine Mordankündigung verfasst hatte, auf sich haben könne. 

Genau über dem Spielautomaten hing ein riesiger Reklamekalender, wie ihn manche Geschäftsleute ihren Kunden schenkten.

FÜR IHREN UMZUG!
DER SPEDITEUR, BEI DEM NICHTS ZU BRUCH GEHT!
FRAGEN SIE NACH ...

Ein naiv gemaltes buntes Bild stellte einen volkstümlichen Herkules mit gestreiftem Pullover, leuchtend rotem struppigem Bart, rosigem Mondgesicht und gewaltigen Muskeln dar. Der Koloss, der der Kundschaft zuzwinkerte, balancierte einen Spiegelschrank:

FRAGEN SIE NACH PICPUS!

Maigret hatte damit nicht unbedingt den Täter schon festgenommen, zumindest hatte er eine Inspiration. Nicht schlecht, wenn man gerade feststeckt und sogar nicht vorankommt.

In anderen Fällen war der Kalender ein Hinweisgeber. So war es mit dem von Félicie. Der war sehr aufschlussreich, um den Gemütszustand der jungen Frau zu erforschen. Denn aus ihrem Gebaren wurde der Kommissar in dem Fall »Maigret und das Dienstmädchen« nicht schlau. 

Als er in »Madame Maigrets Freundin« validieren möchte, wann ein Verdächtiger das letzte Mal in seiner Unterkunft aufgetaucht war, half ihm ein Abreißkalender. Anhand dessen konnte er nachvollziehen, wann der gewisse Peeters (oder auch Moos) in dem Zimmer war. Abreißkalender waren als Beweis so eine Sache: Schließlich hing die Zuverlässigkeit einer solchen Aussage von der des Abreißers zusammen. In meinem Fall wäre es so, dass sich ein Ermittler lieber auf andere Beweise verlassen sollte. Abreißkalender werden bei mir im Block gepflegt, wie ich auch Adventskalender oft im Nachgang zu plündern pflege. (Letztere, nur eine kleine Nebenbemerkung, werden in den Maigret-Romanen mit keinem Wort erwähnt.)

Begleitung

In anderen Romanen geben uns Hinweise auf den Kalender kleine Hinweise. In »Maigret im Haus des Richters« warf der Kommissar einen melancholischen Blick auf ein Wandexemplar in einer Kneipe, welches ihn daran erinnerte, wie lange er schon seine Versetzung zu erdulden hatte. In anderen Romanen wird erwähnt, dass es dem »Kalender nach« schon dieses oder jenes Wetter wäre – wenn sich darauf bezogen wird, ist davon auszugehen, dass sich das Wetter nicht an diesen hält.

In den allermeisten Fällen ist es so, dass Kalender nur einen dekorativen Zweck erfüllen. In »Maigret und das Schattenspiel« inspiziert der Kommissar eine Wohnung und macht sich auch anhand der Kalender (ja, es waren mehrere) ein Bild von den Wohnungsbewohnern. Bei der Untersuchung des Zuhauses der beiden Mordopfer in »Maigret verliert eine Verehrerin« ging es nicht um Wandkalender, er fand im Schreibtisch der Tante zwanzig Jahre alte Kalender. Was die Leute so aufheben.

Und da sind die Männer, die in Bars sitzen und auf Pin-Up-Kalender starren, wie Maigret als USA-Besucher in der Arizona-Geschichte beobachtete.

Andere Leute schauten offenbar viel häufiger in ihre Zeitplaner: In »Maigret gerät in Wut« wird öfter ein Kalender erwähnt. Aber es war nicht der von Maigret. Sondern entweder hingen sie in fremden Büros oder andere Leute schauten in ihren nach, um dem Kommissar Auskunft zu geben.

Erinnerungen

In seine Kindheit zurückversetzt wird Maigret, als er in dem Fall mit den widerspenstigen Zeugen mit den Lachaume- Keksen konfrontiert wurde, die nicht besonders lecker gewesen waren, aber offenbar das richtige Marketing hatten. Dazu gehörten auch Kalender, wie sich der Kommissar entsann.

Und ein letzter soll erwähnt werden:

Sein Büro befand sich in einem anderen Gebäude. An den Wänden hingen Fotos von prämierten Ochsen und Pferden, ein Marktkalender und fast immer die schönste Garbe der letzten Getreideernte, die im Laufe des Jahres allmählich vertrocknete.

Eine Erinnerung des Kommissars, die er mit seinem Publikum in »Maigrets Memoiren« teilte, und in dem es um das Büro seines Vaters ging.