Bildnachweis: - (c) Gerd Altmann (Lizenz)
Epileptiker und Juden
Manches in den Büchern von Simenon wirkt sehr, sehr altmodisch. Mir fiel das neulich schon in »Das blaue Zimmer« auf, denn die Statements in Bezug auf Männer und ihr Verhältnis zur Sexualität und Treue waren irritierend. Nun stolperte ich bei der Lektüre von »Maigret und der Verrückte von Bergerac« gehörig. Erster Stein des Anstoßes war eine Voraussage von Maigret, wer zu einer Zeugenzusammenkunft kommen würde.
»Eine Mitteilung wie die da übt eine unwiderstehliche Anziehung auf alle Geistesgestörten, Nervenkranken, Phantasten, Epileptiker aus...«
Da geht es in der Aufzählung schon wenig durcheinander zu, aber wer überhaupt gar nicht in diese Reihe passt, sind die Epileptiker. Der Schluss, dass Epileptiker eine rege, verrückte oder wahnhafte Fantasie haben (auch in Häufung) kann nicht gezogen werden – das gibt das Krankheitsbild nicht her. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es auch die Kombination von Epilepsie und Wahn geben mag und das mag das damalige Bild von Epileptikern gewesen sein, aber generalisieren lässt es sich halt nicht.
Ein paar Seiten wird in Bezug darauf noch einmal nachgelegt:
Er war offensichtlich ein Epileptiker, einer, den die Leute auf dem Land den Dorftrottel nennen.
Ein wenig zwiespältig ist die Situation schon: Simenon lässt den jungen Mann beklagen, dass man immer hinter ihm her wäre, was vermutlich der Realität sehr nahe kommt. Als Täter bieten sich immer Außenseiter an und jemand, der als Epileptiker gilt, dürfte in der Bevölkerung als solcher gezählt haben. Zumal die Behandlungsmöglichkeiten und das Wissen, das wir heute haben, damals noch nicht so verbreitet gewesen sind.
Die Ansichten, wie man die Anfälle zu werten hätte, änderten sich von Zeit zu Zeit – in der Antike war man der Meinung, dass jemand von Gott beseelt würde, wenn er einen Anfall hat; im Mittelalter waren die Christen der Meinung, dass der Teufel von einem Epileptiker Macht ergriffen hat und man versuchte diesen dann auszutreiben. Methoden, die für den Epileptiker keinen guten Ausgang gehabt haben dürften, und selbst in der Moderne – erinnert sei an den Fall Anneliese Michel – gab es noch Versuche, so der Epilepsie beizukommen.
Insofern kann man das auch gut als Kritik an den damaligen Ansichten auslegen: Maigret lässt dem jungen Mann die hundert Francs geben, die für eine hilfreiche Aussage versprochen wurden – wahrscheinlich aus purem Mitleid, weil der Kommissar um die bedauernswerte Situation des Mannes weiß. Denn eine hilfreiche Aussage, tätigte er nicht.
Die zweite Aussage ließ mich sofort schmunzeln und das war folgender Aussage Maigrets zuzuschreiben:
»[...] Die Schuhe mit Gummiband. Samuel ist ein Jude. Die Juden haben oft empfindliche Füße. [...]«
Es gibt sicher ganz viele Juden, die empfindliche Füße haben. Aber hätte er, wenn man einen Kamm bei dem Mann gefunden hätte, auch vermutet, dass viele Juden Haare haben?
Ich habe mal geschaut, ob es Belege dafür gibt, dass dies ein typisches Vorurteil ist. Mir war das bisher nicht zu Ohren gekommen.
Aber da wird man nicht wirklich fündig – es gibt letztlich nur eine Stelle, auf die verwiesen wird: »Maigret und der Verrückte von Bergerac« und das sowohl im deutsch- wie auch französischsprachigen Google. (Eine Stelle gibt es noch, allerdings hat Google da wohl Probleme mit der alten deutschen Schrift und missinterpretiert »Jucken« mit »Juden«, da die ck-Ligatur seinem »d« sehr ähnlich sieht.)
So hört sich das irgendwie nach einem Klischee an, dass Simenon irgendwo – vielleicht in der Jugend – mal aufgeschnappt wurde.
Es gibt trotzdem, wenn man die Wortkombination eingibt, genügend Ergebnisse, meist auseinandergerissen. Oft in dem Kontext, man habe »Juden empfindlich mit den Füßen getreten«. Da wären wir dann bei der Wahrheit.