Affäre Martineau

Die Affäre Martineau


François Donge hatte sich beim Rechtsanwalt seiner Frau eingefunden, der den Fall mit ihm besprechen wollte. Maître Boniface war ein Advokat alter Schule und wollte das Beste für die Ehefrau des Angeklagten, die bekanntermaßen ihren Ehemann vergiftet hatte, herausholen. Unwillig war der Unternehmer nicht und so unterstützte er die Vorbereitungen des Anwaltes nach Kräften.

In dem Gespräch versuchte sich der Anwalt auf die möglichen Stoßrichtungen der Staatsanwaltschaft vorzubereiten. Diese waren in seinen Augen nicht vorhersehbar und manch Kollege war schon auf dem falschen Fuß erwischt worden. So führte er gegenüber Donge aus:

Ich könnte Ihnen einen Prozess nennen, die Affäre Martineau, bei der einer meiner berühmten Pariser Kollegen seinen Fall genau vorbereitet hatte. Nun aber stellte der Generalstaatsanwalt am Gerichtstag die Fragen so, dass ...

Simenon war ein interessierter Beobachter des Kriminalgeschehens. Nicht nur, dass er immer wieder gern das Reale mit dem Fiktiven verknüpfte, als Reporter hatte er Kriminalfälle auch journalistisch begleitet. Lässt er en passant ein Schlagwort oder einen Namen fallen, der mit einer großen Öffentlichkeit verbunden sein könnte, so besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich dahinter mehr verbirgt.

Dagegen spricht eine Kleinigkeit: Martineau mag nicht so verbreitet sein wie im Deutschen »Müller« oder »Schmidt«. Es gibt aber eine ganze Reihe von Namensträgern prominenter Natur, sodass von einer Heerschar von eher unbekannten Trägern ausgegangen werden kann. Simenon konnte sich den Namen gegriffen haben, weil er wohlklingend war. Dagegen wäre nichts einzuwenden.

Die Story entstand im September 1940, es lohnt sich also nach Fällen in der Presse zu suchen, die vor dem Zeitpunkt auftauchen. Meine Annahme war, dass sich der Autor hier nicht in der Geschichte vergraben würde. Die Affäre wäre in der damals jüngeren Zeit passiert.

Die späten 1930er-Jahre

Kurz gesucht und schon etwas gefunden. Das Leben macht es einem aber nicht so leicht. Das ist es auch, was einem einfällt, betrachtet man die Geschichte von Simone Saint-Clair. Nachdem die Deutschen Frankreich im 2. Weltkrieg besetzt hatten, schloss sich die Mittvierzigerin dem Widerstand an. Sie war Teil des Mithridates-Netzwerkes, welches auf Betreiben des britischen Geheimdienstes MI6 von Pierre Herbinger gegründet worden war. Diese Gruppe, die als eine der wichtigste innerhalb des Widerstandes galt, agierte schon 1940 und umfasste fast 2.000 Agenten. 

Was prädestinierte sie ausgerechnet für dieses Netzwerk? Als junge Frau hatte Saint-Clair in Paris französische und englische Literatur studiert und schon im Ersten Weltkrieg als Dolmetscherin für die amerikanische Armee gearbeitet. Sie beherrschte Englisch und konnte dem Netzwerk gute Dienste leisten. Im Dezember 1943 wurde sie verhaftet und nach zwei Gefängnisstationen in Frankreich nach Deutschland in das KZ Ravensbrück deportiert. Sie überlebte das dortige Grauen, und als sie entlassen wurde, musste sie erfahren, dass ihr Sohn Alain gestorben war. Drei Jahre später wurde ihr der Tod des zweiten Sohnes mitgeteilt.

Sie wandte sich dem Esoterischen zu und suchte einen wissenschaftlichen Satz, um über ein Medium mit Toten zu kommunizieren. Das, wofür sie in der Zwischenkriegszeit bekannt geworden war, trat durch die neuen Interessen in den Hintergrund: die Schriftstellerei.

Sie hatte in den 20er-Jahren in der Literatur-Redaktion der Zeitung » L'Intransigeant« gearbeitet – übersetzten lässt es sich mit »Die Unnachgiebige«, was ein sehr schöner Name für eine Zeitung ist – und schrieb auch für »Le Figaro«. Neben ihrer Arbeit als Übersetzerin von englischsprachiger Literatur schrieb sie eigene Romane.

Unter anderem den mit dem Prix du Roman populaire ausgezeichnete Roman »Le dahlia rouge«. Dieser wurde in mindestens zwei Zeitungen als Fortsetzungsroman veröffentlicht und in ihm wird ebenfalls eine Affäre Martineau erwähnt. 

Simone Saint-Clair starb hochbetagt in Jahr 1975, aber es ist nicht davon auszugehen, dass Simenon sich auf diese literarische Affäre bezog. Wenn es so einfach wäre, dann könnte ich auch behaupten, dass er auf seine eigene Martineau-Affäre verwies, die er in »Maigret und der geheimnisvolle Kapitän« kreierte.

Die 1920er-Jahre

Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Martineaus aus Affären heraushielten. Beim Betrachten der Geschichte Frankreichs zur damaligen Zeit kann einen das Gefühl beschleichen, dass ein Skandal dem nächsten folgte – sei es in politischer, gesellschaftlicher oder krimineller Hinsicht.

Am 20. Februar 1927 berichtete die Zeitung »L'Avenir de la Mayenne« von einer Affäre Martineau. Die Überschrift war sofort auf Seite 2 zu erblicken und das Entdecker-Herz schlug gleich höher. Allerdings … es hörte sich nicht nach einem Fall an, den Maître Boniface gegenüber Donge erwähnt hätte.

Eine Madame Martineau, sie war Wirtin in Mayenne, hatte sich an einen Kommissar Noquet gewandt, da sie der Meinung war, dass man ihr einen Schlüssel gestohlen hatte. Einige Zeit später fand die Polizei diesen jedoch in der Schublade der Wirtin und erstattet Anzeige gegen Madame Martineau. Diese wurde dafür vom Gericht zu sechs Tagen Gefängnis verurteilt. Nicht glücklich mit dieser Entscheidung legte sie Widerspruch ein. Schließlich hätte es sich nur um einen Irrtum gehandelt und da diese einen guten Leumund hatte, wurde das Urteil aufgehoben.

Die Berichterstattung ist an der Stelle sehr wage, denn es die Rede davon, dass es sich um eine »komplizierte Rache« an Madame Martineau gehandelt hätte – es wird aber nicht verraten, wer sich warum an der Wirtin rächen wollte.

Die Umstände zeigen, dass dies kein Fall geworden war, der von einem Generalstaatsanwalt behandelt worden wäre, und somit dürfte er Boniface nicht in den Sinn gekommen sein.

Der Begriff »Affäre« wird gern verwendet, wenn es um »Fälle« oder »Verwaltungsakte« geht. Um 1907 wurde ein gewisser Maître Millerand von einer Zeitung dafür angegriffen, dass er an der Liquidation von Glaubensgemeinschaften sich bereichert hätte. In dem Zusammenhang wird eine Affäre Martineau erwähnt. Knapp elf Jahre zuvor wurde ein ehemaliger Gefängniswärter, der den Namen der Affäre trug, freigesprochen, Geld veruntreut zu haben. Kleinigkeiten, die die Namensträger in Frankreich nicht groß beschämt haben dürften.

Januar 1890

Bei Google gibt es eine Funktion, in der Nutzer:innen Begriffe gegen einander antreten lassen können. So lässt sich herausfinden, welche Themen zu welcher Zeit wichtig gewesen waren. Oder es nie aus der Bedeutungslosigkeit heraus geschafft hat. Auf einer Rechercheplattform, die ich gern nutze, um an alte Quelle zu kommen, gibt es die Funktion auch, um zu visualisieren, für welche Jahre sich Treffer für einen Suchbegriff finden. Beispielsweise wurde bei der Suche nach »affaire Martineau« für die meisten Jahre kein Treffer ausgegeben. Hin und wieder gab es einen Treffer, aber dann stand hinter dem »affaire« ein Punkt und damit fiel es meistens aus dem Spiel.

Aber für das Jahr 1890 gab es einen richtig schönen, fetten Ausschlag. Einundfünfzig Mal fand eine Affäre mit dem Namen eine Erwähnung. Allerdings, und das stimmt mich traurig, war es eine politische Affäre. Bei der war nicht zu erwarten, dass sie ein Nachspiel mit einem Generalstaatsanwalt gehabt hatte. Ein gewählter Abgeordneter mit dem Namen Martineau war abtrünnig von seiner politischen Gruppierung geworden, hatte sich aber trotzdem in eine Versammlung dieser gewagt. Bei der Zusammenkunft wurde er von wütenden Ex-Parteikollegen bedrängt und aufgefordert, ein Rücktritts-Papier zu unterschreiben und sein Posten aufzugeben. Wahlweise konnte er aus einem Fenster des Saals springen. Nur so viel: Seine Landung wäre nicht trocken gewesen und er entschied sich für eine Unterschrift.

Den Boulangisten, um die es hier ging, hatte es letztlich nicht geholfen, denn andernorts wurde diese Taktik nicht gutgeheißen und andere politische Vertreter waren nicht bereit, einen derart erreichten Rücktritt anzuerkennen. Eine gute Presse war damit auch nicht zu machen.

Das war aber schon die dramatischste »Affaire Martineau«. Da es ein politischer Vorgang war, halte ich es für unwahrscheinlich, dass dieser eine Rolle in Bonnifaces Überlegungen spielte. Diese alte Geschichte, der sich fünfzig Jahre vor der Entstehung des Romans abgespielt hatte, dürfte nicht einmal Simenon bekannt gewesen sein. Zumal sie mit knapp fünfzig Erwähnungen im Jahr 1890 nicht das Zeug hatte, die Medien über einen längeren Zeitraum zu beschäftigen und sich so im kollektiven Gedächtnis zu verankern.

Ich würde davon ausgehen, dass sich Simenon sich den Namen der Affäre ausdachte und deshalb diese wohlklingende Bezeichnung wählte.