Bildnachweis: Ein Luxuszug - maigret.de / Leonardo AI
Der Zug aus dem Norden
Erste Voraussetzung, um mit diesem Zug fahren zu dürfen: Geld. Zweite Voraussetzung: Man musste auf der Strecke Paris – Brüssel – Amsterdam unterwegs sein. Wenn diese Bedingungen erfüllt waren, dann war der Étoile du Nord zwischen den 1920er- und 1930er-Jahren eine sehr gute Option für eine Reise. Diese Geschichte beginnt jedoch mit einem Missverständnis.
Ein Blick in die Bibliografie des Romans »Pietr der Lette« zeigt, dass die erste deutsche Übersetzung nicht den Gesuchten im Namen führte. Gewählt wurde »Nordexpress«. Dabei handelte es sich um eine Anspielung auf einen Zug der damaligen Zeit, der korrekterweise »Nord-Express« lautete.
Dieser hat eine lange Geschichte. Die Compagnie Internationale des Wagons-Lits (CIWL), deren Vergangenheit bei der Betrachtung von »Mein Freund Maigret«[MFM] ins Scheinwerferlicht gestellt worden ist, organisierte eine Verbindung zwischen Paris und St. Petersburg. Das waren Luftlinie 2.200 Kilometer, worauf man für die zu fahrende Strecke noch einmal locker 500 Kilometer hinzurechnen kann.
Geplant war eine Verbindung von Südeuropa bis nach Nordeuropa, sprich von Lissabon bis nach St. Petersburg. Allerdings gab es zu viele Komplikationen, weshalb es einen Sud-Express eingerichtet wurde, der von Lissabon bis Paris fuhr, und einen Nord-Express, der von Paris Richtung Norden unterwegs war. Die Stationen auf dieser Route waren unter anderem Hannover, Berlin und Riga – oder wahlweise hinter Berlin Warschau und Moskau. Diese Linie startete 1896 und wurde (mit seinen Strecken-Variationen) über die Jahre ausgebaut.
Interessierte Reisende sind nicht einfach zum Bahnhof gegangen und haben sich eine Fahrkarte geholt und dann maximal eine Stunde bis zur Abfahrt gewartet. Der Takt war eher täglich bis ein- oder zweimal wöchentlich. Je nachdem, in welche Richtung es gehen sollte. Nicht zu vergessen, es handelte sich um einen Luxuszug. Die Leute haben ihre Reisen weitsichtiger geplant.
Umsteigefrei war bei dieser Trip allerdings nichts. Die Spurbreiten der Eisenbahnen waren unterschiedlich, weshalb die Wagen gewechselt werden. Wer in Paris eingestiegen ist und bis St. Petersburg reisen wollte, war etwa 52 Stunden unterwegs.
Der Erste Weltkrieg unterbrach die Erfolgsgeschichte. Erst acht Jahre nach Kriegsende sollte es wieder einen Nord-Express geben. Dieser fuhr anfangs nur bis Berlin, bevor er im Folgejahr auch weiter in Richtung Warschau fahren konnte. Die Russen hatten kein Interesse an Luxuszügen aus Paris, weshalb es zu der Verlängerung nach St. Petersburg nicht mehr kam.
Stattdessen wurde eine neue Variante eröffnet – diese führte über Hamburg nach Kopenhagen. In der Zeit fuhr er zwischen Paris und Berlin täglich. Am 27. August 1939 wurde der Zug wieder eingestellt – der Zweite Weltkrieg war wiederum ein Unterbrecher.
Zwei Aspekte machten diesen Luxuszug nach diesem Krieg zu einem Auslaufmodell – die Trennung zwischen Ost und West durch den Eisernen Vorhang ebenso wie die Änderung der Reisegewohnheiten. Die Leute fuhren mit dem Auto oder nahmen das Flugzeug. Bis 1951 war der Zug noch ein Luxuszug, später wurde es ein ganz normaler, internationaler Schnellzug mit Schlafwagen. Bis auch das einschlief.
Pietr nicht
So logisch es gewesen wäre: Pietr nahm den Zug nicht. Schaut man sich den Zuglauf an und die Tatsache, dass der Lette letztlich trotzdem einen Luxuszug wählte, hätte er ebenso mit dem Nord-Express fahren können. Entweder direkt aus Lettland oder aus Warschau – was ihm lieber gewesen wäre.
Stattdessen nahm er im Original einen anderen Zug: den »Étoile du Nord« (den »Nordstern«). Dieser fuhr von Amsterdam über Brüssel nach Paris. Heißt, der Verbrecher musste zuerst bis nach Bremen reisen (vermutlich über Berlin, wo er hätte auch in den »Nord-Express« hätte umstiegen können, oder Hannover [wiederum eine Gelegenheit] oder Hamburg [und nochmals eine Gelegenheit]). Eine ziemlich umständliche Route in meinen Augen.
Über die Gründe kann nur spekuliert werden, vielleicht wollte er es der Polizei durch die komplizierte Route erschweren, sein wahres Ziel zu identifizieren. Oder er wollte das neueste Zugmaterial ausprobieren, denn das war eher auf der Route des »Étoile du Nord« zu finden. Die Linie wurde in den 1924 eingerichtet. Wie der »Nord-Express« startete dieser Zug am Gare du Nord in Paris. Er bediente jedoch nur eine lächerliche Strecke von etwa 550 Kilometern und die absolvierte er in fünf, sechs Stunden.
Wahrscheinlich lag es an seiner Legende »Oswald Oppenheim«, die ihn als Bremer Reeder auswies und er die entsprechenden Stempel der Grenzkontrolle in seinem Pass hatte, die diese stützen könnten. Das hätten die Polizeien der Länder aber mitbekommen und weitermelden können, was sie offenbar nicht taten.
Jetzt setze man aber nicht einfach einen Zug auf die Schiene und lässt ihn international fahren. Am Anfang war das noch recht unproblematisch. Eigentlich wollten die Betreiber später Elektro-Loks nehmen, dem standen einige National-Probleme im Weg. Jedes der Länder pflegte seine eigenen Elektrifizierungen, da gab es keinerlei Austausch. Also wurden die Dampfloks durch Dieselloks ersetzt. Erst in den 1960er-Jahren kam eine Lok auf den Markt, die mit den verschiedenen Systemen arbeiten konnte.
Man soll sich aber nichts vormachen: Die goldene Zeit des Zugverkehrs war da schon vorbei.
Würde Pietr heute den Zug nehmen?
Wäre er nicht mit einer perfekten, gefälschten Identität unterwegs, die es ihm erlauben würde, finanzielle Transaktionen vorzunehmen, dann wäre es für ihn eine Möglichkeit. Denn er müsste nur den Ticketkauf bewältigen. Die Kontrollen sind im Bahnverkehr lässiger als beim Fliegen und er würde eher den Zöllnern und Grenzbeamten entgehen.
Würde er auf Nummer sichergehen wollen, würde er ein unauffällige oder sehr luxuriöses Auto nehmen, und sich damit auf den Weg machen. Grenzkontrollen sind möglich, aber dass sie ihn herausgefischt hätten, ist eher unwahrscheinlich.
Die Luxuszüge waren damals auch sehr fix unterwegs. Nachdem man den Luxus gestrichen hat, sind es nur noch Expresszüge. Für die ist, gerade im französischen Netz, eine Reservierung notwendig und ob man solche Fahrkarten im Ausland noch an einem Schalter bekommt, ist eine große Frage.
Bliebe für einen Berufsverbrecher wie Pietr noch die Variante der gewöhnlichen Züge und Regionalbahnen. Eine schöne Gelegenheit, die Landschaften und Menschen kennenzulernen. Aber, ob das nun im Interesse von einem Geschäftsmann auf dem Gebiet der Kriminalität ist, sei einmal dahingestellt. Zeit ist schließlich Geld.