Gare du Nord – um 1920

Der Vorsteher, der keiner war


Könnte sein, dass der Eindruck entsteht, dass ich ein nörgeliger Typ bin, der nur auf der Suche nach Fehlern ist. Das entspricht nicht meiner Selbstwahrnehmung, was aber nichts zu sagen hat. Sei’s drum – ich glaube, dass ich ehrlich irritiert bin, wenn in der Geschichte was komisch ist. Geht mir bei Filmen und Serien auch so – aber darüber schreibe ich jedoch nicht. Nun zu Pietr ...

Dieses »Teilchen« fällt auch in die Kategorie: Maigret wartete auf Pietr an einem Bahnsteig im Gare du Nord. Ein Mann, der verdammte Ähnlichkeit mit der Beschreibung des Verbrechers hat, ging an ihm vorbei. Gleichzeitig entstand Unruhe auf dem Bahnsteig und am Zug. Der Kommissar konzentrierte sich darauf. Ein Verbrechen war geschehen.

Zuerst kam der Bahnhofsvorsteher herbeigelaufen, wichtigtuerisch, aber beunruhigt.

Dieser bewegte sich zum Quell der Unruhe und Maigret, kann man sage, folgte dem Vorsteher. In Waggon fünf war das Verbrechen offenbar geschehen und vor dem Wagen schilderten Eisenbahner dem Bahnhofsvorsteher, was passiert war oder was sie dachten, was passiert sein könnte. Maigret begab sich zu dem vermeintlichen Tatort und was passierte?

Er schob seinen massigen Körper gelassen in die aufgeregte Gruppe, und mit einem Mal waren die anderen nur noch Nebenfiguren.

Wer die Reihe mit diesem ersten Roman begonnen hat zu lesen, weiß nun Bescheid, wer das Sagen hat. Und es auch sofort klar, was für eine Wirkung Maigret auf seine Mitmenschen allein durch seine Präsenz auslöste.

Er übernahm die Führung und kümmerte sich.

Untersuchte. Zog seine Schlüsse – bemerkenswert, wie man es von dem Mann gewohnt ist, und verließ den Zug. 

Dort kam es zu dieser Begegnung:

Der Mann von der Bahnhofsaufsicht erschien, in betresster Uniform, selbstsicher, und fragte auf dem Bahnsteig:
»Was ist jetzt schon wieder? Ein Verbrechen? Selbstmord? Fasst ja nichts an, bis die Staatsanwaltschaft da ist! … Achtung! … Ich habe hier die Verantwortung, ich!«

Mein erster Gedanke war: Wie, da kommt einer von der Bahnhofsaufsicht, und will einem Polizisten das Heft aus der Hand nehmen?

Mein Zweiter: War der denn nicht schon anwesend gewesen?

Rein logisch ist es doch so, dass der Bahnhofsvorsteher das höchste zivile Bahnhofsorgan sein sollte. Wie sollte dann irgendwo hergelaufener »Mann von einer Bahnhofsaufsicht« kommen und sich als Chef aufspielen?

An der Stelle sind wir bei der Einleitung: Ich finde das nicht stimmig und irritierend. Darüber lässt sich hinweggehen. Allerdings nicht, wenn man sich kritisch mit der Materie beschäftigt. In dem Fall forscht man weiter …

Wo kam das also her? Warum stand das so in der Übersetzung? Kiepenheuer & Witsch?

Der Kommissar der Bahnhofspolizei erschien.

Diogenes?

Der Kommisssar der Bahnpolizei erschien.

Aus Spaß habe ich auch in der ersten deutschsprachigen Ausgabe nachgeschaut, wie sich der Übersetzer damals entschieden hatte:

Inzwischen war der Sonderdezernent des Bahnhofs [...] eingetroffen.

So ein Dezernent ist natürlich etwas wichtigeres als ein Vorsteher, das würde ich schon aus dem Bauch heraus sagen. Und obwohl ich schon nach dem Nachschauen in der Diogenes-Ausgabe ahnte, wo der Hase hinläuft, habe ich aber zusätzlich auch im Original nachgeschaut.

Le commissaire spécial de la gare arrivait, [...]

Bahnhofspolizei also. Und da das Verbrechen in seinem Zuständigkeitsbereich entdeckt wurde, war es verständlich, dass der Bahn-Kommissar vorbeischaute. Maigret musste den Mord nicht weiter bearbeiten, denn sein Verbrechen und seine Verbrecher waren auch anderweitig unterwegs. Oder anders gesagt: Sie beschränkten sich nicht nur auf Tötungsdelikte in Zügen.

Heißt also: Dieser Lapsus hat sich mit der Übersetzung bei Kampa eingeschlichen, die soweit ich das sehen kann, eine Neuübersetzung ist.