»Maigret macht jedem Angst«


1993 bekamen die Deutschen ihn erstmals zu sehen, zwei Jahre nach dem Drehbeginn der ersten Maigret-Folgen mit Bruno Cremer. Der Schauspieler löste in Frankreich Jean Richard als Maigret aus, der es geschafft hatte, jeden Maigret-Roman zu verfilmen, manchen sogar zweimal.

Er hatte noch nie ein Buch von Georges Simenon gelesen, als man ihm die Rolle des »Maigret« anbot. Und er hatte auch nur einen seiner bis dato 15 Vorgänger in der Rolle des »Maigret« gesehen – nämlich den ersten Darsteller, Jean Renoir, der 1932 in der allerersten Verfilmung eines »Maigret«-Romans, »La nuit du carrefour«, in die Titelrolle geschlüpft war. »Wie gut«, befand die heimische Presse nach Ausstrahlung der ersten Episode, »so imitiert Monsieur Cremer niemanden, sondern gibt der Figur eine neue Interpretation. Mit minimaler Mimik und einer dafür umso stärkeren Präsenz.«

Haben Sie mit der Figur des »Maigret« etwas gemeinsam, Monsieur Cremer?
Zu Beginn der Dreharbeiten, 1991, glaube ich, dass uns nur die Größe – ich bin 1,80 Meter – und unsere Vorliebe für gutes Essen verbindet. Dann habe ich Gemeinsamkeiten mit seinem »Schöpfer« Simenon entdeckt. Mein Vater wurde in Lüttich geboren und während des Ersten Weltkriegs von der französischen Armee als Belgier nicht aufgenommen, worauf er sich in seinem Heimatland rekrutieren ließ – wie der ganz junge Simenon. Was »Maigret« betrifft, lebe ich genauso zurückgezogen, bin sesshaft und scheu – sogar noch mehr als er. Unsere grösste Übereinstimmung ist allerdings die Einstellung zur Arbeit.

Und die wäre?
Zu Beginn der Ermittlungen bricht bei »Maigret« immer ein richtiges Fieber aus, und wenn der Fall erledigt ist, wird er ganz depressiv. So ist das auch bei mir »Maigret«, den man oft als »Seelendoktor« bezeichnet, könnte auch gut und gern Schauspieler sein. Er arbeitet wie ich: mit Intuität, ohne bewusst den Verstand einzuschalten. Er wartet auf die »Erleuchtung«, von der er weiß, dass sie ihm kommen wird. Und: Er richtet nicht, ist tolerant und will alles retten – selbst den Mörder. Er selbst stellt sich für die Sache in den Hintergrund, wie das auch Schauspieler tun müssen. »Maigret« sorgt sich nicht um übermorgen, plant nicht – ich auch nicht. Wie oft wollte ich schon aus der Branche aussteigen und hatte dann Angst, dass man mich auf der Straße nicht mehr erkennt. Ein mysteriöses Vertrauen in die Zukunft und der Glaube an den Erfolg hielt mich dann doch im Job – wie »Maigret«, der seinen nächsten Fall kaum erwarten kann.

Stimmt es, dass »Maigret« bei Regisseuren nicht beliebt ist?
Ja, ich glaube schon. Weil schon so viele diese Romane verfilmt haben, es viele Darsteller wie Jean Gabin oder Charles Laughton gibt,und die Figur so komplex ist. »Maigret« macht jedem Angst.

Warum?
Weil dieser Kommissar genial ist! Er löst jedes Puzzle, kennt sich in der Psychologie aus und ist unglaublich helle. Das macht ihn unberechenbar und gefährlich. Auch für Regisseure, weil die diese Mischung umsetzen müssen. für unsere Serie beispielsweise hat sich jeder Regisseur eine andere Ecke der Figur ausgesucht: Claude Goretta stellt in »Maigret und der Weinkeller des Majestic« die Aggressivität des »Maigret« in den Vordergrund, Serge Leroy zeigt in der Episode »Fremdenhaß« seine schwachen Seiten, und Bertrand van Effenterre beleuchtet in der Folge »Das Haus des Richters« den Kommissar als Polizist. Das ist wohl die einzige Chance, der Vorlage gerecht zu werden.

Und wie geht »Maigret« mit Frauen um?
Ihm ist es völlig gleichgültig, ob seine Frau glücklich ist oder nicht. Er ist zufrieden, wenn sie ihn bemuttert. Seine Sexualität grenzt an Narzissmus, seine einzige Passion ist seine Arbeit. Dabei bleibt es nicht aus, dass er im Milieu vielen Prostituierten begegnet, mit denen er manchmal sogar sympathisiert – doch das bringt den leichten Mädchen keine Vorteile. Beim Thema Frauen blockt »Maigret« ab. Ich habe mich lange gefragt, was seine Ehefrau eigentlich an ihm findet: Schließlich kommt er nur abends nach Hause, um dort seinen nassen Überzieher aufzuhängen und ihn gegen warme Pantoffeln auszutauschen… Ich habe einen Weg gefunden, seinen Charakter zu verstehen.

Welcher ist das?
Für mich ist er wie ein großer Junge. Seine Frau findet in ihm das Kind, das die beiden nicht haben konnten – das gemeinsame Töchterchen war ja noch im Baby-Alter gestorben. Ich habe dem versucht Rechnung zu tragen, jedoch ohne ihn zu intim werden zu lassen. Ich spiele ihn privat als einsamen Wolf.

Also ein Enttäuschter?
Nein, ihm macht das nichts, er konzentriert sich bei anderen Menschen dafür umso mehr auf deren Psyche, was sicherlich eine Art Ersatz ist. In ihm steckt ein heimlicher Voyeur, der durch das Blosslegen anderer Seelen auch Teile von sich selbst entdeckt.

Welches sind die guten Seiten von »Maigret«?
Seine rigorose Moral und sein Desinteresse für’s Geld. Man könnte fast sagen, Luxus mache ihm angst und verwirrt ihn. Er ist sehr bescheiden. Und ich mag sein Vertrauen gegenüber Menschen, selbst bei seinen Tätern. Er hat dafür Verständnis, wenn sie mehr vom Leben – wie schnellere Autos, mehr Geld – wollen und dadurch aus der Rolle fallen.

Was war die Hauptarbeit, die Sie für die Figur des »Maigret« leisten mussten?
Mich in seine Persönlichkeit hineinzuversetzen. Ich habe versucht, seine Gedanken, Gefühle und Reaktionen nachzuvollziehen. Aber: Das konnte ich laut Buch ja nie artikulieren. »Maigret« drückt sich durch seine Mimik aus. und die trifft man nur, wenn man sein Innerstes kennt.

Scheint, als hätten Sie wie »Maigret« einen Hang zur Psychoanalyse…
Danke: Meine Frau ist Psychoanalytikerin.

Was werden Sie am Ende Ihrer Dreharbeiten von »Maigret« mitnehmen?
Die große Lust, bei diesen Romanen selbst Regie zu führen. Die Figur fasziniert mich, auch seine Liebe zum Spiel mit dem Leben und zu seinem Job als Kommissar. Sollte ich jemals das Glück haben, werde ich die Kamera die ganze Zeit auf sein Gesicht richten – weil Simenon ihm im Buch nie die Chance gab, es zu zeigen. So ist dass, selbst wenn er gerade nicht in einer Film-Szene zu sehen ist, die Zuschauer sein Gesicht unbedingt wiedersehen wollen. Ich kenne »Maigret« jetzt so gut, dass er mir keine Angst mehr macht…

Interview, welches der Pressemappe von VOX anlässlich der Erstausstrahlung beilag.