Georges Simenon wohnt in hundert Zimmern


Teil einer Legendenbildung. Was darf man glauben? Die große Frage, wenn man den Artikel aus der Zeitschrift »Film und Frau« liest, der im Jahr 1960 über Georges Simenon erschienen ist.

»Es fängt immer damit an, dass ich mich in meiner Haut nicht mehr wohl fühle«, erklärte Georges Simenon, als man ihn fragte, wie seine enorme Produktion an Büchern von Qualität eigentlich zustande käme. Und seine Frau bestätigte: er werde dann auf einmal mürrisch, nichts sei ihm recht, und die ganze Familie wisse – jetzt muss er wieder schreiben. Bevor er sich aber an die Maschine setzt, wird zunächst einmal reiner Tisch gemacht: für zehn Tage etwa darf kein Vertragsabschluss, kein Besuch, kein wichtiger Brief eingeplant werden. Dann unterziehen sich Vater, Mutter und sämtliche Kinder einer ärztlichen Untersuchung. Denn es wäre eine Katastrophe, wenn während der Geburt des neuen Buches etwa ein Mitglied der Familie krank würde: Simenon ist im Hinblick auf die Seinen so sensibel, dass er sofort nicht mehr weiterarbeiten könnte, wäre da auch nur das Geringste nicht in Ordnung. Und der Roman bliebe wahrscheinlich auf immer unvollendet. Nach diesen Vorbereitungen geht der Mann, der jetzt siebenundfünfzig Jahre alt ist und nahezu zweihundert (andere sagen: dreihundert) Bücher verfasst hat, erst einmal lange allein spazieren. Er schafft damit um und in sich jene Leere, in die nun die Gedanken und Erinnerungen einfluten können, aus denen die kommende Erzählung entsteht. Denn bis jetzt hat der Autor keine Ahnung, was er schreiben wird – nur die Tatsache, dass er schreiben muss, steht für ihn fest. Und die Psychoanalytiker dürfte es interessieren, dass es fast immer eine Impression aus der Kindheit ist, die auf das entstehende Werk Simenon am stärksten einwirkt. Diese seine Kindheit hat ganz unter dem Einfluss seines sehr geliebten Vaters gestanden, und nichts hat in seinem Wesen so tiefe Spuren hinterlassen wie der Tag, an dem Arzt ihm, der damals noch ein kleiner Junge war, mitteilte, dass der Vater sterben müsse.

Wahrscheinlich datiert auch von diesem frühen schmerzlichen Erlebnis her das intensive Mitgefühl und Mitleiden, das den Autor Simenon mit den schuldig werdenden oder sich schuldlos schuldig fühlenden Helden seine Romane verbindet. Er versetzt sich so sehr in sie hinein, dass er während der Arbeit an ihrer Schicksalsgeschichte sogar ihren Gang, ihre Gesten, ihre Ausdrucksweise annimmt. Er weiß nicht nur, sondern erlebt sozusagen selbst, wie es dazu kam, dass sie zu Verbrechern wurden, und so ist er imstande, in seinem Roman »Lettre à mon juge« (»Brief an meinen Richter«) ganz genau den merkwürdigen Seelenzustand eines Arztes zu schildern, der, plötzlich aus der Bahn geworfen, nun dem Urteil der Geschworenen ausgeliefert ist. Dieser Zustand hat, so bemerkt man mit einigem Schaudern, eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Vorstadium des künstlerischen Schöpfungsaktes, den Simenon bei sich so genau beobachtet hat. Jener Arzt schreibt: »Es war da ein Augenblick, von dem an ich plötzlich mit anderen Augen um mich blickte… ich sah mein Haus an, und ich fragte mich, wieso das mein Haus sein… Ich sah Armande an, und ich musste mir eindringlich wiederholen, dass sie meine Frau sei… Ich lebte äußerlich zwar weiter wie immer, ich war auch nicht unglücklich, nein, glauben Sie das ja nicht… Aber ich hatte den Eindruck, mich im Leeren zu bewegen…« Die Grenzen zwischen Schuld und Unschuld verwischen sich auf solche Weise, der Mensch, der in Verdacht gerät, ob zu Recht oder zu Unrecht, ist ein Ausgestoßener, er hat keine Möglichkeit, sich mit den Anderen zu verständigen – er schwimmt in einem Vakuum. Drei Auswege bieten sich ihm: sich dem Gesetz des Alltags anzupassen, Selbstmord zu begehen oder zum Verbrecher zu werden. Es ist viel Kafka-Stimmung in den Romanen Simenons und viel Selbstbekenntnis (dieses am unmittelbarsten in dem stark autobiographischen Roman »Pédigrée«). Und doch sagt gerade Georges Simenon: »Der Schriftsteller darf überhaupt nicht sichtbar werden, nur die Erzählung und der Leser gelten. Je mehr die Erzählung vom Leser geschrieben zu sein scheint, um so besser ist es. Sie muss kurz sein und auf einen Sitz gelesen werden können. Sie muss den Leser mit einem einzigen Schlag packen.« Und das Merkwürdigste ist denn auch: jede Sorte Leser wird von Simenon sofort gebannt, aber während die einen sich nur an das halten, was da jeweils geschieht, empfangen die anderen auch die Schwingungen, die von den geschilderten Menschen und ihrem Autor ausgehen, empfinden sie deren »Gegenwart, die gerade aus ihrer Abwesenheit geboren ist«, spüren sie die seltsamen Bande«, die Menschen von gleicher Wellenlänge der Nerven miteinandern vereinen. und während die einen zufrieden sind, wenn sie endlich wissen, wer der Mörder war, werden die anderen erst stutzig, wenn Simenon, meist auf der allerletzten Seite, ihnen noch zum Schluss den Blick in ein neues Geheimnis des Menschseins auftut. Woher kommt diese allumfassend und internationale Wirkung eines Schriftsteller, den André Gide den größten Erzähler der Gegenwart im französischen Sprachgebiet nannte? Beruht sie darin, dass Simenon in seinen, meist nicht viel mehr als zweihundert Seiten umfassenden, Romanen stets ein Stück wirkliches, alltägliches zu beobachtendes Leben schildert, dass er die psychologischen Hintergründe meisterlich aufdeckt, dass er die verschiedenartigsten Milieus aus eigener Anschauung kennt? Oder ist nicht das Ausschlaggebende eben jenes Stück eigenen Herzens, das er immer wieder mit investiert?

Dazu kommt eine Einfachheit der Sprache, die Simenon ganz bewusst pflegt. Man sagt, er reduziere absichtlich seinen Wortschatz mehr und mehr – schon damit bei der Übersetzung in fremde Sprachen (bisher sind es achtzehn, in die seine Werke übertragen worden sind) nicht allzuviel von seinem Stil verlorengehe.

In Deutschland sind seine Bücher – vor allem die Romanserie um Maigret – erst spät, seit etwa fünf Jahren, durch Übersetzungen bekanntgeworden. Schon vorher aber kassierte, wie es heißt, der Autor von seinen Verlegern in aller Welt täglich etwa fünfzehntausend Mark – ein Einkommen, das sich zwar noch nicht mit dem der Ölkönige am Persischen Golf messen kann, einen gewöhnlichen Sterblichen aber doch ganz getrost in die Zukunft schauen lässt. Und ein gewöhnlicher Sterblicher ist Simenon trotz seinem sensationellen Erfolg geblieben. So phantastisch es in seinem Kopf aussehen mag – um sich herum liebt er Ruhe und Ordnung. Das Innere von Schloss Echandens bei Lausanne, wo er seit kurzem residiert, legt davon Zeugnis ab.

Dreißig Jahre seines Lebens freilich war Simenon, der am 13. Februar 1903 in Lüttich geboren ist, sich zuerst zum Priester berufen fühlte, dann aber Journalist wurde, ruhelos auf daer Wanderschaft durch die ganze Welt. Erst als er geheiratet hatte, wurde er verhältnismäßig sesshaft. Ein altes weißes Landhaus in Conneticut und etwa zehn andere Besitzungen dies- und jenseits des Ozeans, die er in den letzten Jahren erworben oder umgebaut hat, beweisen es.

Ob die Ufer des Genfer Sees, an denen heute wie ehedem so viele Künstler und Gelehrte ihre Heimat finden, ihn für immer halten werden?

Der Artikel erschien 1960 (Ausgabe 23) in der Zeitschrift »Film und Frau«. Ein Autor ist nicht genannt.