Der Erbarmungslose


Gestern abend war es soweit. Die DVD wurde aus ihrer Verpackung geholt, in den DVD-Player gelegt und recht stillos genossen wir dabei Rotwein und Käse (wo doch Bier und Sauerkraut viel angemessener gewesen wäre). Aber dem kleinen Kinovergnügen tat das keinen Abbruch. Wir schauten zu, wie Maigret im Zug saß und Moulins entgegenraste, besinnlich die Landschaft betrachtete und dann den Drohbrief hervorholte.
Heute nachmittag habe ich mir dann mal den zugrunde liegenden Roman »Maigret und die Affäre St. Fiacre« zu Gemüte geführt. Es gibt eine ganze Reihe von Punkten, in denen der Film sich das Recht nimmt, von der literarischen Vorlage abzuweichen. Das beginnt damit, dass Maigret in Moulins aus dem Bahnhof tritt, in eine Gaststätte geht und dort von der Gräfin St. Fiacre empfangen wird. Die beiden unterhalten sich und die Gräfin sagt Maigret, dass sie ein solcher Zettel nicht erschrecken könne. Etwas unlogisch, wo ein ähnlich gearteter Zettel sie kurze Zeit darauf das Leben kosten soll. Der Altersunterschied zwischen Gräfin und Maigret ist gering. Sie kam als junge, frischgebackene Ehefrau auf das Gut, das Maigret kurze Zeit später verlassen sollte. Im Buch stellt sich der Altersunterschied anders dar: Es wird eindeutig von der alten Frau geredet.

Im Buch ist Maigret passiv. Klar, dass sich das nicht sehr gut verkaufen lässt. Wie sollte man eine Figur darstellen, die einfach nur rumgeht und sich alles in Ruhe anschaut? Schwer vorzustellen, zumindest wenn man nicht gerade einen Autorenfilm drehen will. Im Gebetbuch der Frau Gräfin findet sich ein Zettel, in dem vom Tod des Grafen - ihres Sohnes - die Rede ist. Das brachte der Dame die ewige Ruhe. 

Im Film machte man daraus einen Ausschnitt aus der Zeitung. Die Meldung wurde lanciert und Maigret macht im Film den Zeitungsleuten ordentlich Dampf unter Hintern, weil sie die Falschmeldung veröffentlicht haben. Es war der Täter, der die Meldung lancierte, dann darauf wartete, dass die Zeitung ausgetragen wird, sich ein Exemplar stahl und die Meldung im Gebetbuch der Gräfin St. Fiacre unterbrachte. Eine Kette, die an verschiedenen Punkten ziemlich wackelig war. Denn zum einen konnte sich der Täter nicht darauf verlassen, dass man ihm glaubte. Der (unwissende) Gewährsmann, der für die Zeitung sorgte, hätte an dem Abend mal etwas anderes tun können, als in die Kneipe zu kommen. Viel hätte in dem Fall schief gehen können.

Im Buch ist es klarer formuliert: Es sah wie ein Zeitungsartikel, war aber nur eine billig gemachte Nachahmung. Wie sie produziert wurde, wird aber bei der Auflösung des Falles nicht behandelt. (Interessanterweise kommt der Punkt nicht zur Sprache, denn er lenkt die Aufmerksamkeit und den Verdacht auf den Sekretär der Gräfin, der als Nebenher-Journalist Zugang zur Setzerei hat.)

Und der Graf: Natürlich ist der Sohn verdächtig. Im Film wie im Buch ist Maurice de Fiacre ein Lebemann. Ein um das andere Mal besorgt er sich Geld bei seiner Mutter. Er gibt ungedeckte Schecks aus, und er ist sowohl in der Papier- wie in der Film-Fassung kurz davor im Gefängnis zu landen, da ungedeckte Schecks kein kaviersdelikt sind. Zumindest nicht in der Höhe, wie sie Maurice ausstellte. In der Charakterisierung unterscheiden sich aber die beiden Fassungen erheblich: Im Film sehen wir einen drahtigen Mann, der abgeklärt wirkt, den nichts wirklich berührt. Jede Gelegenheit, die er hat, sich verdächtig zu machen, nutzt er aus. Zusammenfassend kann man sagen: durch und durch unsympathisch. Im Buch sieht es schon anders aus: Der Mann ist kräftiger, gibt zu, dass er keinen Erfolg im Leben hatte und dass er nichts kann. Er ist ironisch, aber nicht so, dass es unangenehm auffällt. Mir scheint es sogar, dass Maigret den Grafen mag. Im Film ist das wiederum ganz anders: Da hält Maigret dem Grafen vor, er hätte kein Format, könne sich mit seinem Vater nicht messen.

Entscheidend und das Buch (und letztlich auch den Charakter) ins Gegenteil verkehrend ist der Schluss des Films. Im Buch bleibt Maigret seiner Haltung treu, und agiert nicht. Der eigentlich Handelne ist der Graf. Er beruft die Runde der beteiligten Herren ein, führt ein Schauspiel auf und überführt den Täter. Er ist es auch, der kein Erbarmen zeigt, in dem er den Täter zur toten Mutter zerrt und ihn zwingt, sich zu entschuldigen. Im Film übernimmt Maigret den Part und wenn man Maigret kennt, dann kommt einem der Titel des Films schon spanisch vor. Verstehen tut man es erst, wenn man den Film gesehen hat.

Die Auflösung in einer Art Sherlock-Holmes-Manier zu präsentieren, kam mir beim Film etwas merkwürdig vor. Aber sie stimmt, wie ich heute nachmittag gelesen habe, mit der Darstellung im Film überein.

Abgesehen davon gibt es noch eine Reihe von Kleinigkeiten, die natürlich nicht mit dem Buch übereinstimmen: Beispielsweise bleibt der Strang des Mess-Dieners m.E. völlig unberücksichtigt. Stimmungsmäßig geht ein wenig verloren, da Maigret im Schloss wohnt, statt bei Madame Tatin. Vielleicht hat man es damals nicht so nostalgisch gesehen, die Schilderungen Simenons von der Übernachtung Maigrets bei der Frau, die er früher geneckt hatte. Heute natürlich hätte das ein ganz anderes Flair.