Wie ein Bär


Müssten wir den ersten der Maigrets nicht preisen? Schließlich ist es der Beginn einer Reihe, die viele Menschen fasziniert und unwahrscheinlich gern gelesen wird. Der Beginn eines Serie, mit der Simenon eine Popularität erzielte.

Man nehme das Werk Simenon minus Maigret: Der Schriftsteller hätte mit dem einen oder anderen Werk die Beachtung der Literaturkritik gefunden, aber hätte er es auch in die Herzen der Leser geschafft?

Der Erste der Maigrets ist »Maigret und Pietr der Lette«.

Die Ursuppe
Es war keine leichte Geburt, dieser Maigret. Staatliche Ausmaße erfolgen hohen Einsatz. Ganz so, wie Simenon es später schilderte, ist der Kommissar wohl nicht geboren worden. Uns ist es egal, Hauptsache er ist gesund und hat sich prächtig entwickelt. 
Das schleichende Ende
Dem ersten (offiziellen) Maigret folgten eine ganze Reihe von Maigrets, denen man erfreulicherweise eine steigende Qualität bescheinigen konnte. Allerdings war nach drei Jahren schon wieder Schluss. Aber nur so halb. 
Kleine Maigrets
Lang dauerte Abschied von Kommissar Maigret nicht. Mitte der dreißiger Jahre kehrte Simenon zu seinem Kommissar zurück und machte ihn in Kurzgeschichten zum Schnell-Ermittler. Der Kommissar bereitete sein Comeback vor. 
Die große Zeit
Die Kurzgeschichten waren nur ein Zwischenspiel, Fingerübungen für Simenon. Anfang der 40er Jahre kehrte Maigret zurück und sollte gedeihen. Er gewann an Format und Erfahrung. Simenons Anfängerfehler, wenn man sie so nennen will, sind in diesen Romanen nicht zu finden. 
Ausklang
Gold war damals auch Gold, aber im Fernsehen halt noch schwarz-weiß. Maigret trat von der großen Leinwand, auf der er meisterhaft von Jean Gabin verkörpert wurde, in die kleine Kiste und mit dieser wurde Rupert Davies zum Sinnbild für Maigret. Zumindest für die Engländer und Deutschen. 

Fragt man Maigret-Leser, so rümpfen viele die Nase und äußern die Ansicht, dass dieser Maigret noch viele Qualitäten missen lässt. Allzu häufig bekommt man auch zu hören, dass Maigret-Leser Probleme mit den ersten Romanen Simenons hätten.

Man stolpert von diesem Punkt fast unweigerlich in eine Diskussion, die in der Frage gipfelt, welche Maigret-Periode denn die Beste sei. Die Anfangsperiode mit den ersten Maigrets wird dabei, wie man den vorangegangenen Ausführungen entnehmen kann, selten genannt. Unter meinen Maigret-Favoriten sind kaum Romane zu finden, die in der frühen Maigret-Phase entstanden sind. Erstaunlicherweise habe ich von den frühen Non-Maigrets, wie zum Beispiel »Die Verlobung des Monsieur Hire« und »Das Haus am Kanal«, eine höhere Meinung als von den frühen Maigrets. Die Non-Maigrets besitzen eine hohe atmosphärische Dichte, die Simenon in den Maigrets erst zu einem späteren Zeitpunkt erlangt.

Wenn Simenon sagte, dass »Pietr - le-Letton« der erste Roman gewesen sei, den er bereitwillig mit seinem Namen gekennzeichnet hat, so bedeutet dies zwar einen Qualitätssprung, nicht aber das Ende einer Entwicklung (weder der Simenons noch der des Kommissar Maigrets).

»Pietr-le-Letton« stellt den Typus eines neuen Romans da, der noch nicht perfekt war. Simenon ist das Verdienst zuzuschreiben, den ersten Roman geschrieben zu haben, in dem ein Kommissar mit »Gewicht« die Hauptrolle spielt.

Es ist nicht so, dass Maigret der erste Polizist in einem Kriminalroman war. Sogar in bekannten Geschichten spielte der Polizist als Handelnder wichtige Rollen, allerdings selten die Hauptrolle. Mir ist kein Polizist bekannt, der solche Berühmtheit erlangte und so »alt« ist wie Maigret, und die Hauptrolle in einer Serie von Romanen von dieser Bekanntheit spielt.
Mit Maigret trat ein Mann auf die literarische Bühne, der Verbrechen aufklärte und dabei kein Held war. Vergleicht man dies mit Kriminalfiguren der jüngeren Geschichte, so fallen mir die Polizisten des amerikanischen Schriftstellers Ed McBain ein. Auch hier steht Normalität im Mittelpunkt. Aber selbst dieser Vergleich hinkt, denn diesen Verbrechensaufklärern fehlte immer eines: der Wunsch sich in den Täter hineinzuversetzen oder die Ruhe und Ausgeglichenheit Maigrets.

Mit dieser Ruhe trat er im ersten Roman an.

»Er blieb ruhig stehen, eine imposante Gestalt mit eindrucksvollen Schultern, die einen breiten Schatten warfen. Er wurde angerempelt, schwankte jedoch so wenig wie eine Mauer.«

Simenon ist es wichtig, dass sich die Leser ein Bild machen können. Auf den ersten Seiten bekommt der Leser ein umfassendes Portrait des Mannes geliefert, welches im Laufe des Romans weiter komplettiert wird und sich dann in den anderen Romanen nur in Nuancen ändern sollte. Markante Merkmale anderer Protagonisten werden hervorgehoben, wie zum Beispiel die Augen des Russen in »Pietr-le-Letton«, die Gesichtszüge Maigrets – mithin auch sehr interessant – bleiben verschwommen, werden von Simenon nicht erwähnt. Ebenso schwammig bleiben seine Mitstreiter. Hier ein Mitarbeiter, der pummelig ist, da mal ein Rothaariger – eine detailliertere Vorstellung muss oder darf sich jeder Leser selbst machen.

»Pietr-le-Letton« war von Simenon als Muster angelegt. Fayard war nicht begeistert, ließ sich auf das Experiment jedoch ein. Er forderte von Simenon, Maigret-Romane vorzuproduzieren, und dies war vielleicht der entscheidene Faktor, der bewirkte, dass sich Simenon als Schriftsteller und Maigret als Figur weiter entwickeln konnten.

Simenon sagte von seinem Kommissar, er wäre ein Anarchist. Damit meinte er sicherlich nicht die Überschreitungen in den ersten Maigret-Romanen. Ein Aspekt, und in diesem unterscheidet sich Maigret von anderen Detektivgestalten, ist sein Verhältnis zum Täter. Mögen die Verbrechen noch so grausam und ungewöhnlich erscheinen – Maigret ist nicht unbedingt darauf aus, die Täter der irdischen Gerichtsbarkeit zu übergeben.

Es geht dem Kommissar nicht um eine Trophäe, die man sich an die Wand hängen kann, nicht um ein Kopfgeld. Dieser Wesenszug ist schon in dem ersten Maigret-Roman sehr gut wahrzunehmen. Hat er im Laufe des Falles einige Rückschläge hinzunehmen, eigene schwere Verletzungen inbegriffen, so verliert Maigret nicht den Blick auf das Menschliche – auch im Täter. Seine Gedanken sind nicht durch Rachegedanken getrübt.

Der Anarchismus Maigrets, er stellt allzu oft das gängige Rechtssystem durch seinen Umgang mit den Tätern in Frage, ist in den ersten Romanen nur ein Ton, der dem Leser erst bewusst wird, wenn er mehr Maigret-Romane gelesen hat. Schon in diesem ersten Roman räumt Simenon (durch Maigret) dem Täter die Möglichkeit einer Flucht ein.

Maigret weiß, welches seine Wurzeln sind und wohin er gehört. Das Majestic zum Beispiel ist nicht sein Terrain. Als ob er das nicht selbst gut genug wüsste, wird ihm dies auch noch von der Hoteldirektion und den Gästen durch Gesten und Bemerkungen unmissverständlich klargemacht. Dieses dumme und kleinliche Verhalten perlt an Maigret nur scheinbar ab – er der Sohn eines kleinen Gutsverwalters muss sich mit der Prominenz und dem Geldadel herumschlagen. Seine, Maigrets Entscheidungen, haben Einfluss auf Politik, Diplomatie und Wirtschaft. Zum einen fühlt man, dass dieser Einfluss und diese Macht Maigret ziemlich egal sind und er Gedanken daran unwirsch zur Seite fegt, wenn sie ihm kommen. Zum anderen hat man nicht das Gefühl, dass der Kommissar seine Wurzeln verleugnet und auch nicht die harte Schale (oder Arroganz?) besitzt diese Herabwürdigung zu ignorieren.

Die Methode Maigrets – er sagt von sich, dass er eigentlich keine hätte, – ist schon zu seinen Anfangszeiten ein Anachronismus. Eigentlich sollte ein Kommissar Arbeit an seine Mitarbeiter delegieren, die Übersicht über die Ermittlungen behalten und Verantwortung übernehmen. Davon ist Maigret in »Pietr-le-Letton« weit entfernt. Wie in späteren Romanen stapft der Kommissar durch die Stadt, durch das Land und betrachtet die Leute in ihrem Milieu. Er agiert als agent provocateur und sieht dabei nicht, dass er verheerende Fehler begeht, die Leben kosten und auch das eigene gefährden.

Nimmt man es genau, nimmt es Simenon nicht sehr genau. Es dauert nicht lang, da begeht Kommissar Maigret in seinem ersten Fall seine erste Dienstüberschreitung. Er reist, ohne sich eine Erlaubnis einzuholen, nach Fécamp. Ein Kommissar der Pariser Polizei sollte wissen, dass er außerhalb der Stadt keinerlei Befugnisse hat. Sicher ist es nicht so, dass jeder Leser über diesen Punkt sofort stolpert, aber Maigret macht sich kurz darauf daran, die nächste Übertretung der Vorschriften anzugehen, indem er sich gegenüber einer Zeugin als Beamter der Ausländerpolizei vorstellt.

An diesen beiden Punkten merkt man, dass Simenon die internen Strukturen und Abläufe der französischen insbesondere der Pariser Polizei nicht kannte oder sie einfach ignorierte. Auf dem Lande war (und ist) die Gendarmerie zuständig, in größeren Ortschaften gab (und gibt) es eine eigene örtliche Polizei. Diese Ausrutscher sind in späteren Maigret-Romanen nicht mehr zu finden. Dies ist sicher auch einem privaten Lehrgang geschuldet, den Georges Simenon bei der Pariser Polizei erhielt. Schon bald bleibt Maigret in seinem Gebiet und zieht die zuständigen Vertreter hinzu, sobald sich ein Fall über sein Gebiet hinaus erstreckt.

Der Wissenschaft gegenüber war Maigret nicht sehr aufgeschlossen. Wohl bekommt Maigret eine detaillierte Beschreibung von Pietr, einschließlich der Ohren. Anhand dieser Beschreibung stellt sich Maigret an den Gare du Nord und will in der Menschenmenge einen Mann identifizieren. Ich kenne mich in der Hut- und Haarmode der damaligen Zeit nicht aus, denke aber, dass es eine höchst unzuverlässige Methode sein muss, einen Mann anhand solcher Kriterien aus der Menge herauszufischen.

Maigret tritt in diesem ersten Roman als Einzelgänger auf, hat Heldenhaftes an sich. Bewundernswert, wie er sich durch die Hälfte des Romans mit einer sich immer wieder öffnenden Wunde schleppt, die Schmerzen dabei nur eine lästige Nebenrolle spielen. Und das bei einer Wunde, bei der das Fleisch am Brustkorb zerfetzt wurde! Auf solche Heldentaten lässt sich Maigret in der Folge nur noch selten ein. In »Le fou de Bergerac« wird Maigret angeschossen, lässt aber seine Frau zur Pflege kommen. Das Gleiche gilt in der Zukunft für Erkältungen, aber das nur am Rande.

Gerade diese Abkehr vom Heroischen, denn in späteren Romanen ist solches Verhalten nicht mehr zu finden, macht Maigret sympathisch und verleiht ihm die Menschlichkeit, die die Leser an ihm schätzen. In einem der Filme, in denen Jean Gabin den Maigret gab, wurde Maigret stellenweise als Draufgänger dargestellt. Diese Maigret-Darstellung wirkt lächerlich.

In diesem ersten Roman sieht es so aus, als würde nicht nur Maigret die Methode fehlen, sondern auch Simenon lässt sie missen. Der Kommissar wirkt alles andere als geradlinig und zielstrebig. Das irritierende Auftreten des Polizisten ist weniger im Wesen des Kommissars zu suchen, als vielmehr im Schreibstil seines Schöpfers. Man kann es keinem Leser übel nehmen, wenn er sich nach der Lektüre dieses Romans von Simenon abwendet und sagt, dass er sich für diese Romanfigur nicht begeistern könne.

Wenn man es in einem Wort zusammenfassen müsste, würde ich den Roman als verwirrend bezeichnen. Ich habe mich in ihm nicht zurechtgefunden; vermutlich wird es mir nicht allein so gehen.
Maigret entwickelt sich in den folgenden Jahren zu einem Organisator, der in der Lage ist, den Mitarbeitern unterschiedliche Aufgaben zuzuweisen. Das Delegieren von Kleinigkeiten gibt Maigret die Luft und den Spielraum, sich aktiv in Ermittlungen einzumischen und den Schreibtisch zu verlassen.

Während es typisch gewesen wäre, den Roman mit einem lauten Knall zu beenden, wählt Simenon ein für ihn typisches Ende – im Kleinen und Privaten findet sich die Lösung für das Drama. Damit liegt der Roman aber schon ganz auf der Linie der ihm folgenden Maigret-Reihe: Maigret fängt an Menschen zu sammeln.