Mehr als nur eine Affäre

Simenon war sich der Popularität seines Kommissar Maigret schon ziemlich bald bewusst, so dass er sich nicht scheute, diesen als stilistisches Mittel auch in einem anderen Kontext einzusetzen. So geschehen in dieser Reportage, die – das muss man allerdings anmerken – ursprünglich nicht als Ganzes geplant gewesen war, sondern eine Zusammenstellung eines Interviews und vier, voneinander unabhängig erscheinenden, Artikeln, darstellt.

Aber nun zu der wichtigsten Frage: wer oder was ist Stavisky. Schon in Hinter den Kulissen der Polizei war von diesem Stavisky immer wieder die Rede. Ich möchte an der Stelle gar nicht weiter auf die politischen Verhältnisse im Frankreich der damaligen Zeit eingehen, das würde zu weit führen und einen Überblick erhalten Sie zum Beispiel im Nachwort des Sammelbandes »Zahltag in einer Bank«. Aber eine der schillernsten Figuren der zwanziger Jahre, die Frankreich Anfang der dreißiger Jahre zu erschüttern wusste, war Alexandre Stavisky. Der aus Ungarn eingewanderte Jude war ukrainischer Herkunft und in den zwanziger Jahren in einige Betrugsaffären verwickelt, was ihm aber nicht schadete – einflussreiche Politiker standen hinter ihm und schützten Stavisky. 1933 krönte er seine Verbrecherkarriere in dem er falsche Kassenanweisungen der Crédit municipal de Bayonne in der damals sehr ansehnlichen Höhe von zweihundert Millionen Franc unter der die Leute brachte. Dabei wurde er unterstützt vom Bürgermeister von Bayonne. Da es nicht immer gutgehen konnte und auch der Verbrecher mit den glücklichsten Händchen irgendwann den Boden überspannt (»Verbrechen lohnt nicht«, ist eine der Lieblingsmaximen von Kommissar Maigret), flog die Sache auf und Stavisky musste sehen, wo er bleibt. Er verschwand Ende 1933 und wurde am 8. Januar 1934 in Chamonix aufgefunden – in den letzten Zügen liegend.

Nun flog so einiges auf und mit ihm ein Teil der Politik. Die Affäre, hier und heute (meine damit in Deutschland kaum noch bekannt), erschütterte Frankreich in ihren Grundfesten, rüttelt wahrlich am Fundament der 3. Republik. Regierungen traten zurück, einzelne Beamte durften ihren Hut nehmen, andere wieder fand man tot auf – ob Mord oder Selbstmord war häufig nicht festzustellen. Oder wollte man nicht feststellen. Direkte Folge war, dass versucht wurde, die Regierung Daladier (der zu den Radikalsozialisten gehörte) zu stürzen, und eine faschistische Regierung an die Macht zu bringen. Diese Ereignisse hatten blutige Unruhen zur Folge.

Dieser Komplex wird in der Reportage von Simenon behandelt. Wie oben erwähnt, sind es ursprünglich vier verschiedene Artikel gewesen (davon ein Interview) und so ist der Stil dieser Reportage auch nicht durchgängig.

Der erste Teil ist mit »G. SIMENON lässt uns die Meinung von Kommissar Maigret über den Tod von Stavisky wissen« und in diesem ist folgender Abschnitt zu lesen:

»Sie wissen, dass Maigret nicht sehr redselig ist. Er raucht seine Pfeife, er brummt etwas, trinkt Bier, runzelt die Stirn oder lächelt. In diesem Fall kann ich Ihnen verraten, dass er von unbändiger Freude erfüllt ist.«

Aber im Großen und Ganzen ist es mehr die Meinung von Simenon, als die des Kommissar Maigret.

Der zweite Teil trägt den Titel »Die Selbstmordmaschine« und beschäftigt sich mit dem Tod des Justizrats Prince, der auch im dritten Teil mit dem Titel »Tagebuch der Ereignisse vom 23. Dezember 1933 bis zum 27. Februar 1934« trägt, in dem Simenon Tag für Tag die Ereignisse schildert, die sich abspielten, eine Rolle spielt. Vom Geständnis des Direktor der Bank, Millionen veruntreut zu haben, über die verschiedenen Regierungskrisen, bis hin zur Gründung eines Untersuchungsausschusses. Man bekommt an keiner Stelle das Gefühl, dass viel für die Aufklärung getan wird.

Im dritten Abschnitt mit dem Titel »Die Mafia« geht es um die Befindlichkeiten und Abhängigkeiten bei Machenschaften. Simenon unterteilt hier in Genehmigungsinhabern und Umschlagempfängern und ich kann nur sagen, dass ich selten eine treffende Beschreibung von Seilschaften und Korruption gelesen habe. Vielleicht fängt es harmlos mit Lobbyismus an, aber häufig endet es so, wie von Simenon beschrieben wurde, dass sich beide Parteien vollständig gegenseitig ausliefern. Das Erschreckende: es funktioniert haargenau immer noch so, wie es in dieser Reportage geschildert wird – man muss wahrscheinlich an gar keinem Punkt Abstriche machen.

Und so kann man auch ohne die oben angeführten Abstriche den letzten Abschnitt der Reportage mit dem Titel »Wenn man die Schuldigen verhaften wollte« unterschreiben, denn auch so läuft es heute immer noch. Die Bezüge zur Stavisky-Affäre mögen aus der heutigen Sicht uninteressant erscheinen, die Rückschlüsse die Simenon auf die Verhältnisse zieht, sind aber aktueller den je.

Simenon hat sich seinerzeit in die Aufklärung des Falles verbissen, war aber nicht so erfolgreich, wie er es sich versprach. Er musste zurückstecken. Hermann Graf Keyserling schrieb dazu:

»In Paris begegnete ich einem, der ihn persönlich kannte: sehr reizend soll er trotz der ungeheuren Anzahl seiner Romane sein, noch ganz jung, nur in letzter Zeit ein wenig heruntergekommen. Einen Knacks habe ihm vor allem sein Versagen bei seiner Mithilfe während der Untersuchung der Stavisky-Affäre gegeben. Das hätte er freilich vorher wissen können, dass der geborene Erfinder niemals zugleich der berufene Entdecker ist. In bezug auf die gegebene Wirklichkeit ist der Phantasiereiche seiner Uranlage nach Lügner, als welchen Plato bekanntlich den Künstler überhaupt bestimmt.

Der Skandal fand auch seinen Niederschlag in einem Film. 1974 drehte Alain Resnais mit Jean-Paul Belmondo den Film »Stavisky«, der den Skandal als Basis hat, aber keine Chronik darstellt. Mit verwoben in diesem Film ist übrigens auch eine Reise Trotzkis durch Frankreich und die Geschichte des Untersuchungsausschusses zur Stavisky-Affäre.