Ohne Methode

Der Coolness-Faktor Maigrets wies anfangs katastrophale Werte auf. Sein Chef war es, der dafür gesorgt hatte, dass er sich unwohl fühlte. Dieser war in London gewesen und hatte dort eine Vereinbarung getroffen, dass ein Mitarbeiter von Scotland Yard dem Pariser Kommissar über die Schultern schauen darf. Er hatte die grandiose Idee gehabt, dass die Insel-Kollegen   von der Methodik des großen Ermittlers lernen könnten. Wer weiß, vielleicht war es Aufschneiderei gewesen, nach dem Motto: »Schau mal, wen wir haben und wie toll wir sind!« Diese Leute kennt man! Sie stehen zwischen Administration und Politik und glauben, sich auf diese Art behaupten zu müssen.

Maigret hatte nicht das Gefühl, dass der abgeordnete Inspektor Pyke irgendetwas bei ihm Lernen würde. Der Mann redete wenig und stellte keine Fragen. An der Verständigung lag es nicht – Pykes Sprachkenntnisse des Französischen waren hervorragend. Maigret kam sich nicht wie ein Lehrer vor. Vielmehr fragte er sich ständig, was Pyke über das, was er gerade getan hatte, dachte und wie er es beurteilt. Was er in London über ihn erzählen würde.

Die Kombination aus Bespaßung des englischen Kollegen und das schreckliche Mai-Wetter schlugen ihm aufs Gemüt.

Ein Freund

Das Wort »Freund« setzt Jules Maigret sehr sparsam ein. In einigen Geschichten hatten sich Menschen aus seiner Vergangenheit gemeldet, Schulkameraden oder Studienkollegen. Die sahen sich als Freunde, aber richtig enge Freunde, zu denen Maigret regelmäßig Kontakt pflegte, die waren sehr selten. Zurecht fällt einem Doktor Pardon ein. Halten wir uns vor Augen, dass er den Mann trotz aller Freundschaft siezte!

Posaunte jemand in der Weltgeschichte herum, dass der berühmte Kommissar Maigret ein guter Freund von einem wär, und kurz darauf wird die- oder derjenige ermordet, erweckt das ein gewisses Interesse.

Marcel Pacaud hatte das getan. Abends in der Kneipe auf Porquerolles hatte er mit seiner Kommissars-Freundschaft angegeben. Am nächsten Morgen war er tot und die örtliche Polizei hat nicht viel mehr in der Hand als eine Leiche und das Statement des Ermordeten. 

Die Polizei hatte nicht nur das Wort des Verstorbenen, es hatte auch einen kleinen Brief. Maigret hatte ihm auf Briefpapier der »Brasserie des Ternes« eine Information zukommen lassen, die der Mann viele Jahre aufbewahrt hatte. 

Die Kombination aus dem Gehabe des Toten plus diesem Schriftstück weckte in der örtlichen Polizei einen Wunsch: Sollte sich der Freund um den Fall kümmern, er würde sich schon auskennen.

Maigret sagte der Name anfangs nichts. Das hätte den Freund, wenn es denn ein echter gewesen wäre und es sich nicht nur um pure Aufschneiderei gehandelt hätte, sehr gekränkt. Auf solcherart Gefühle musste keine Rücksicht genommen werden, weshalb sich der Kommissar Gedächtnisstützen aus dem Archiv holte. Das brachte ihm die Gewissheit: Pacaud war kein Freund.

Aber sie hatten miteinander zu tun gehabt.

Der Beschützer

Die Traurigkeit über das Ableben des vermeintlichen Freundes hielt sich bei Maigret in Grenzen. Er wusste nun aber, welche Beziehung er zu dem Mann hatte und was das Verbindungsglied zwischen ihnen war: Ginette.

Die junge Frau war dem Haudegen aus Le Havre mit Haut und Haaren verfallen. Pacaud, von allen Marcellin gerufen, war nicht der Schlimmste im Gangster-Business. Aber er hatte einiges auf dem Kerbholz. Ginette störte es nicht, dass sie für ihn anschaffen gehen musste. Sie trug ihren Teil zum Einkommen bei. Die beiden jungen Leute fassten das Geschäft nicht nur als Dienstleistungsgewerbe auf, sondern als Selbstbedienungsladen. Die Kundschaft wurde über Maßen ausgenommen und damit wurden sie für die Polizei interessant.

Für die Gesundheit Ginettes war es ein Segen, dass Pacaud ins Gefängnis musste. Nun konnte Maigret darauf hinwirken, dass sie sich einem Lungenexperten vorstellte, den er ihr organisierte. Dieser schickte die junge Dame in ein Sanatorium, und das für Jahre, damit sie ihre Schwindsucht auskurieren konnte.

Pacaud war dankbar.

Die Reise

Maigrets Terrain war Paris. Hier konnte er so viel ermitteln, wie er wollte. Die Lässigkeit früherer Jahre, wo er überall seine Nase reinsteckte, wo er gerade wollte, die war vorbei. Die hat ihm Simenon ausgetrieben. Es brauchte handfeste Gründe, dass der Kommissar außerhalb der Hauptstadt ermittelte oder eine Einladung. Die kam von den Kollegen in der Provinz und sein Chef war einverstanden.

So begab er sich mit Inspektor Pyke auf eine Reise in den Süden.

Wie ein kleines Kind spielte Maigret. Er hatte es sich ausgedacht. Jedes Mal, wenn etwas für Frankreich sprach, heimste er einen Punkt ein. Die Wahl der Kategorien waren so konzipiert, dass der Vertreter der englischen Krone die Spiele schwer gewinnen konnten – zumal der Gegenspieler nicht aktiv am Spielgeschehen beteiligt war und Einfluss hatte.

Machte Pyke einen Punkt, als herauskam, dass Maigret mit einem Nachthemd im Gepäck unterwegs war? Das klingt so uncool, zumal sein Nachthemd noch mit einer roten Borte verziert war. Anfangs war Maigret das peinlich, aber später sollte er mit dem Gewand durchs Hotel spazieren und sich in der Küche seinen morgendlichen Kaffee holen. Die Punkteverteilung war wirklich eine schwierige Angelegenheit.

Das Wetter war prächtig, das Ambiente einmalig. Maigret punktete auf der ganzen Linie – das sollte sich alsbald ändern.

Darf ich vorstellen?

Pacaud hatte sein Statement, Maigret sei sein Freund, im »Arche Noah« – einer Mischung aus Restaurant, Kneipe und Hotel – abgegeben. Eine ganze Reihe von Leuten waren dabei gewesen. Aber wer sagte, dass die Gäste es nicht weitererzählt hatten und daraufhin jemand losgezogen war und den Mann, der eine Gefahr zu sein schien, umgebracht hatte. Wie war diese Ansage Pacauds überhaupt zu verstehen? War es eine Drohung oder war es eine Warnung?

Paul war der Besitzer. Aber irgendwie war er unverdächtig. Er kochte, er schenkte die Getränke aus. Ein so guter Mann konnte nicht der Mörder sein. Ich verrate nicht zu viel, dass er zu keinem Zeitpunkt unter Verdacht stand. Auch eine ganze Reihe von steinalten Menschen, die sich kaum vorwärts bewegen konnten und trotzdem Boule spielten, hatte Maigret nicht in Verdacht.

Monsieur Emile war der Sohn von Justine, der Besitzerin diverser Bordelle auf dem Festland. Ein wenig halbseiden war der Mann, andererseits war er im Rentenalter und mehr mit seinen Krankheiten denn mit dem Verkehrsgeschäften seiner Mutter beschäftigt. Die Engländer:innen auf der Insel waren auch nicht die Jüngsten: Da waren die Besitzerin einer Whisky-Fabrik und ein ehemaliger Major der indischen Armee. Beide sprachen dem Alkohol über Maßen zu. Die Frau tendierte zu Bier, der Mann schenkte Champagner dem Vorzug – normalerweise ist es andersherum? Die Whisky-Herstellerin, Ellen Wilcox, hatte einen Sekretär – wahrscheinlich auch ihr Liebhaber – und mit ihm lebte sie auf einer Jacht. Der Major residierte in einer Villa an Land. Mit von der Partie war auch ein gewisser Monsieur Charlot, der den verschiedensten Geschäften nachging. Beispielsweise beschaffte er für Bordelle neues Personal, aber er konnte sich auch für das Spielautomaten-Geschäft begeistern. 

Eine schöne Insel wie Porquerolles spricht auch die Künstler an. So hatte sich der Maler Jef de Greef niedergelassen. Über seinen Erfolg lässt sich nicht viel sagen, aber Maigret hatte schon bald den Eindruck, dass der Mann eine anarchistische Ader hatte. De Greef hatte eine hübsche, wenn auch sehr junge Freundin und lebte ebenfalls auf einem Boot. Der Sekretär der Wilcox hatte sich durch zwei Gedichtbände hervorgetan und schrieb Reportagen für Zeitungen.

Porquerolles war eine ernsthafte Gefahr. Da war der Léon, der ehemalige Zahnarzt. Er war nur gekommen, um Urlaub zu machen. Es war ihm nicht gegeben, die Insel wieder zu verlassen. Genauso verhielt es sich mit dem Inselarzt. Keiner schien die Insel leichten Herzens verlassen zu wollen.

Ginette

Zwischen diesen ganzen verkrachten Existenzen sollte Maigret nun den Schuldigen finden. Es war zu warm, es war zu schön. Schwierig wäre es, meinte der Kommissar, an einem solchen Ort zu arbeiten, wo man keine Lust auf die Arbeit habe. Das merkte auch bald er korrekte Mister Pyke. Mit der mediterranen Küche hatte er seine Probleme, aber er schätzte das Klima und die Badegelegenheiten. Er war glücklich mit dem Major einen Gesprächspartner gefunden zu haben, sie waren auf dem gleichen College gewesen, sodass die beiden schon bald regelmäßig Champagner tranken.

Dann kam Ginette.

Hatte sich der Kommissar gefragt, wie das Verhältnis sein würde? Schnell wurde klar, dass er nicht mehr die Rolle eines Beschützers oder Retters spielen musste. Aus dem zarten jungen Mädchen war eine kräftige junge Frau geworden, die für die Mutter von Monsieur Emile ein Bordell leitete. Sie war, wenn man so wollte, eine Geschäftsfrau geworden. Sie wusste um die Anwesenheit des Parisers und hatte insgeheim gehofft, die Beziehung würde an der Stelle anknüpfen, wo sie sich getrennt hatten. Die Absicht hatte Maigret nicht.

Der Kommissar hatte ein Problem: Er kam mit seinen Ermittlungen nicht voran. Der Rhythmus wurde bestimmt durch die Fischer und ihre Fänge, durch die An- und Abfahrten der Fähre zum Festland und durch die Mahlzeiten. Und die Sauferei. Es galt nicht nur für Maigret, aber irgendwie waren mit Ausnahme derjenigen, die wirklich arbeiteten, alle benebelt, die ganze Zeit. 

Mister Pyke war gefühlt entweder beim Schwimmen oder bei seinem Major. Wie sollte er da die nicht vorhandene Methode Maigrets studieren?

Wer arbeitete eigentlich? Inspektor Lechat. Maigret kannte ihn schon aus früheren Fällen, wenn auch nicht in die Region, und er war so etwas wie ein Lucas-Ersatz. Dieser konnten nur telefonisch zuarbeiten. Ohne Lechat wäre Maigret in diesem Fall überhaupt gar nicht vorangekommen. Der Inspektor war kurz vor ihm auf die Insel gekommen und hatte in der Zeit Informationen über (gefühlt) Jeden auf Porquerolles gesammelt.

Wunderbar

Wer einen Roman in Sachen Polizeiarbeit sucht, der dürfte enttäuscht werden. Ist man an einer Geschichte interessiert, in der ein kleiner Inspektor der Einzige zu sein scheint, der sich nach den Regeln der Polizei um den Fall kümmert, während der leitende Ermittler mit dem Klima zu kämpfen hat und gefangen ist zwischen Weißwein, Pastis und Anisette, der ist mit diesem Buch gut aufgehoben. Gerüche, Licht, Geräusche, Geschmack – alles spielt eine Rolle und nimmt einen als Leser gefangen. Nur Methodik und Realismus, die sollte man nicht suchen.

So ist mit der Zwischenüberschrift als Fazit alles gesagt. 

Die Geschichte stellt einen perfekten Einstieg in die Welt der Maigret-Romane dar. Zudem ist es ein idealer Sommer-Urlaubsbegleiter – insbesondere wenn man sich an die Côte d'Azur begibt.