Über die Story

Sehr geehrter Herr Kreiskommissar,
Ich kenne Sie nicht persönlich, aber was ich über Ihre Untersuchungen und Ihr Verhalten Kriminellen gegenüber gelesen habe, gibt mir Vertrauen. Dieser Brief wird Sie erstaunen. Werfen Sie ihn nicht voreilig in den Papierkorb. Dies ist weder ein Scherz noch das Werk eines Irren.
Sie wissen besser als ich, dass die Wahrheit oft unglaublich ist. Ein Mord wird demnächst begangen werden, wahrscheinlich schon in den nächsten Tagen. Vielleicht von jemandem, den ich kenne, vielleicht von mir selbst.
Ich schreibe Ihnen nicht, um ihn zu verhindern. Das Drama ist sozusagen unabwendbar. Aber ich möchte, dass Sie, wenn es passiert ist, darum wissen.
Wenn Sie mich ernst nehmen, so inserieren Sie bitte unter den Kleinanzeigen des Figaro oder Monde folgenden Text: K.R. Erwarte zweiten Brief.
Ich weiß nicht, ob ich ihn schreiben werde. Ich bin sehr verwirrt. Gewisse Entscheidungen sind schwer zu treffen.
Ich werde Sie vielleicht eines Tages in Ihrem Büro sehen, aber dann werden wir durch eine Schranke getrennt sein.
Ihr Ergebener

Die Unterwelt bewahrte in diesen Tagen Ruhe, das Wetter war dazu angetan, seinem Gegenüber, dem man an einem normalen Tage den Schädel einschlagen würde, Leben zu lassen, so dass Maigret keine Mörder zu jagen hatte. Da flattert ihm dieser Brief auf den Tisch. Am Quai gehen an einem normalen Tag unzählige Briefe von Verrückten und Irren ein, obwohl so mancher Verrückte, der Maigrets Büro betrat und um Hilfe bat, kurze Zeit später tot war (ohhh – ein Schlag unter die Gürtellinie, aber es sei an dieser Stelle an Cécile und Madame Antoine de Caramé erinnert). Aber dieser Brief zeichnete sich nicht nur durch eine gewählte Sprache aus, sondern war auf äußerst edlen Papier geschrieben, der Briefkopf mit der Adresse wurde abgetrennt. Da Maigrets Inspektoren an diesen Tagen nichts zu tun hatten, schickte er den kleinen Lapointe los, herauszubekommen, wer das Papier herstellte, wo und an wen es verkauft wurde.

Lapointe hatte Glück. Das Papier stammte aus einer kleine Papiermühle und wurde an zwei Geschäfte verkauft. Nun war dies ja schon relativ einfach, aber Lapointe hatte noch mehr Glück: drei Kunden bezogen dieses Briefpapier – einer war gestorben, ein anderer verzogen. Blieb als dritter im Bunde Rechtsanwalt Emile Parendon.

Emile Parendon ist ein kleiner, zerbrechlich wirkender Mann – eine Autorität auf dem Gebiet des Seerechts. Von dem Besuch Maigrets ist er maßlos begeistert. Bevor Maigret ein Wort hervorbringen konnte, begann der Rechtsanwalt den Kommissar zu interviewen: wie das mit den Kriminellen ist und was er vom Paragraphen 64 – der die Unzurechnungsfähigkeit regelt, hielte. Es dauert eine Weile, bis dem Rechtsanwalt aufgeht, dass der Kommissar kein großes Interesse an Unzurechungsfähigen oder Seerecht aufbringt.

Die Begeisterung über den Brief an Maigret ist Parendon nicht anzumerken. Er kommentiert ihn mit ein paar nichtssagenden Kommentaren und sein wirklich großartiges Abschluss-Statement zu verkünden: »Merkwürdig.« (Diese Bemerkung ist fast so fantastisch, wie die der Wirtin einer Pension, als sie auf die Mitteilung des Todes ihrer Angestellten nur »Tatsächlich.« sagte.) Weiteres wird nicht gesagt, in der Tür steht die Frau des Rechtsanwalts. Dieses bemüht sich herauszufinden, warum Maigret ihr Haus beehrt, aber weder er noch ihr Mann verraten es, so dass sie sich »trollt«.

Den Nachmittag verbringt Maigret bei den Parendons. Er spricht mit den Angestellten (Sekretärin, Rechtsanwaltsgehilfe und Bürodiener), dem Hauspersonal und abschließend mit Parendons Frau. Dabei entsteht ein vielschichtiges Bild – Parendon, der neben Maigret zierlich und zerbrechlich wirkt, hat ein Verhältnis mit seiner Sekretärin, die sehr sympathisch auftritt; die Sekretärin – Mademoiselle Vague - spricht ohne Scham von dem Verhältnis, das nichts mit Liebe zu tun hat. Sie berichtet auch, dass sie von der Ehefrau einmal erwischt wurden, musste sich aber korrigieren: mindestens einmal. Madame Parendon hat die Fähigkeit lautlos irgendwo aufzutauchen, so dass sie es in der Hitze des Gefecht nur einmal mitbekommen haben.

Maigret kann trotz der verschiedenen Konflikte nicht denjenigen ausmachen, der die Briefe geschrieben haben soll, und ist auch bezüglich des Mordes sehr skeptisch. Er beschließt das Haus in der Nacht von einem Inspektor bewachen zu lassen. Als er am Quai reinschaut, hat er einen Rohrpost-Brief auf seinem Schreibtisch liegen, in dem der Absender bedauert, dass sein Brief diese Auswirkungen gehabt hätte. Der Besuch von Maigret im Haus der Parendons würde wie ein Katalysator wirken und die Dinge nur noch verschlimmern.

Am nächsten Morgen gegen zehn Uhr findet man die Sekretärin mit durchgeschnittener Kehle im Arbeitszimmer.