Der Mann im Schatten

Diese Geschichte, die zweifellos zu den frühen zählt, ist in mehrfacher Hinsicht interessant. In den meisten Romanen des Maigret-Universums ist es so, dass Maigret sehr früh einen Auftritt hat. Die Leser:innen werden erst nach seinem Erscheinen mit der Tat konfrontiert, denn der Kommissar erfährt im Verlauf der Geschichte von einem Verbrechen oder der Planung eines solchen, und begibt sich dann an die Orte des Geschehens. In der Gai-Moulin-Geschichte jedoch ist über lange Zeit von dem Kommissar nichts zu sehen und zu hören. Oft genug geht es um die Befindlichkeiten des Polizisten. Kein Auftauchen, keine Polizisten-Gefühle.

In Paris muss sich der Kommissar nicht vorstellen. In den frühen Romanen hat ihn Simenon bemerkenswert oft in Gegenden ohne Zuständigkeit geschickt, wo seine Reputation ihm nicht half. War den Kollegen in der Provinz erst einmal bekannt, mit wem sie es zu tun hatten, konnte der Kommissar schalten, wie er wollte – gut zu beobachten in »Maigret und der Verrückte in Bergerac«. In dieser Geschichte, die in Lüttich spielt, tritt der Kommissar nicht nur spät ins Licht, er führt seine Berufskollegen hinter selbiges, sodass denen Zweifel an dem Pariser Polizisten kommen. Auch das ist einmalig im Maigret-Universum.

Ein Abbild des kleinen Sim

Die Schilderungen sind unter topografischen Aspekten erstaunlich konkret. Einen Spaziergang auf Basis dieser Geschichte zu initiieren dürfte kein Problem sein. Klar müsste einem dabei nur sein, dass es eine ganz schöne Rennerei werden würde. (Gerade im Hinblick darauf, dass Lüttich bei Weitem nicht so eben ist wie es Paris größtenteils.) Ein besonderes Vergnügen dürfte das Lesen (oder auch das erneute Lesen) des Romans machen, wenn die Leser:innen schon Einblicke in die Biografie der frühen Jahre Simenons gewonnen haben oder – fast noch besser – auch vor Ort gewesen sind und durch die Straßen von Lüttich spaziert sind.

René Delfosse, ein der beiden jungen Männer, kommt aus gutem Hause. Wo dieses genau ist, erfahren die Leser:innen nicht. Trennt sich Delfosse von der zweiten Hauptfigur im ersten Teil – Jean Chabot –, so verschwindet er im Schatten und wir folgen Chabot in sein Zuhause. Dieses befindet sich nicht nur in der gleichen Straße, in dem Simenon zeitweise aufgewachsen ist, sondern hat sogar die gleiche Adresse: 53 Rue de la Loi.

Das Szenerio, dass Simenon entwirft, ist ein Abbild seiner Jugend. Motive, die uns in seinem Werk noch öfter unterkommen sollen. Ein Zuhause, welches nicht nur der Familie gehörte, sondern das auch von Untermietern geprägt war. Einer Mutter, die ständig am Jammern über den Sohn war, und einem gesundheitlich angeschlagenen Vater, der ebenfalls in Sorge um seinen Sohn und dessen Kapriolen war – aber ein zurückhaltendes und nachsichtiges Naturell besaß. Im Haus Chabot, so der Eindruck, hatte zuerst die Mutter etwas zu sagen. Dann folgten schon die Untermieter.

Diese stammten übrigens nicht einem Handwerk-Milieu, sondern kamen aus aller Herren Länder und studierten in Lüttich (oder gab es zumindest vor). Nicht alle von ihnen waren gute Zahler, sodass die Chabots nicht immer pünktlich mit der Miete rechnen konnte.

Jean Chabot lebte wie der junge Georges Simenon. Und die Abenteuer, die er erleben sollte, hätten genauso auch dem jungen Simenon widerfahren können. Mit der Biografie des Lüttichers im Kopf wird die ganze Geschichte authentischer. Klar wird, dass auch Simenon hätte abdriften können wie Chabot und was wäre dann aus ihm geworden. Die Maigrets hätte jemand anders schreiben müssen.

Der kleine Jean

Jean Chabot ist sechzehn Jahre alt und arbeitete als Angestellter in einem Notariatsbüro. Zu seinen Aufgaben gehörte das Buchen der Notariatsanzeigen in den verschiedenen Lütticher Zeitungen, von denen es eine ganze Reihe gab. Außerdem war er der Herr über die Portokasse.

Seine Freizeit verbrachte er gemeinsam mit dem zukünftigen Lebemann René Delfosse, der zwei Jahre älter und an der Universität der Stadt eingeschrieben war. Mit ihm zog er durch die Cafés und genoss das Nachtleben. Besonders der Nachtklub »Gai-Moulin« hatte es ihnen angetan. In diesem gab es eine Animierdame Arlètte, die ihnen durchaus Aufmerksamkeit schenkte, wenn keine zahlende Kundschaft anwesend war und beide Jungen war ein wenig in sie verliebt, Jean auf eine jungenhaftere Art als sein Freund.

Solche Nachtbars sind nicht als Hort des Discounts bekannt und so war das Geld bei den beiden Burschen regelmäßig knapp. Der Herr über die Portokasse glaubte, dass sich temporäre finanzielle Unpässlichkeiten durch einen Griff in die selbige überbrücken ließen. Aber gerade war er in arger Bedrängnis, denn sein unmittelbarer Vorgesetzter hatte einen Kassensturz angekündigt. Da hatten die beiden eine geniale Idee: das Klauen der Einnahmen ihres Lieblingsnachtklubs. Sie heckten einen bombensicheren Plan aus – zum Betriebsschluss ließen sie sich in der Toilette einschließen und hätten danach alle Zeit der Welt, sich des Geldes zu bemächtigen.

Bombensichere Pläne haben oft den Schönheitsfehler, dass sie explodieren. So auch in diesem Fall.

Der Abend war wenig spektakulär. Viel war selten los. Es reichte halt. Ein Ausländer, die Jungs vermuteten, es wäre ein Türke, hatte die Bar aufgesucht und wurde umsorgt. Ein weiterer Fremder tauchte auf, von kräftiger Statur, machte jedoch keine Anstalten, großzügig zu sein. Uninteressant für die Animierdamen und Kellner. Alle verschwanden wieder früh, was auch hieß, dass es keine lange Nacht werden würde. Rechtzeitig begaben sich die Jungs auf das stille Örtchen und warteten auf das Schließen der Türen.

Als alles dunkel war, erkundeten sie sich in den Gastraum, um die Einnahmen zu suchen. Dabei stolperten sie über etwas. Oh Schreck! Als sie ein Streichholz anzündeten, sahen sie in dessen Schein den vermeintlichen Türken tot auf dem Boden liegen. Wie der Mann gestorben war, interessierte die beiden Einbrecher nicht, sie nahmen Reißaus. Spuren verwischen? Fehlanzeige! Umsichtige Flucht? Ja, wie denn?

Komisch ist's

Der nächste Morgen war für Jean Chabot eine Katastrophe. Die Geldbeschaffungsmaßnahme hatte sich als Fiasko erwiesen. Die Stunde der Wahrheit in Form der Kassenprüfung stand ihm noch bevor. Dann war da die Leiche, die sie gesehen hatte. Würde man sie damit in Verbindung bringen können? Eine ganze Reihe von Unwägbarkeiten.

Bis zum Mittag konnte Chabot seinen Chef noch hinhalten. Er erzählte diesem, er hätte das Kassenbuch zu Hause vergessen. Aber bis dahin musste er seine finanzielle Krise lösen, ansonsten würde es knallen. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Er mochte sich nicht vorstellen, was der große Boss ihm um die Ohren hauen würde; hatte jedoch eine gute Vorstellung davon, wie seine Mutter schimpfen würde und wie sich sein Vater grämen täte.
Aber die Rettung nahte: Sein Freund René gab ihm Geld, dass er seinem Onkel aus der Ladenkasse stibitzt hatte. Der Chef konnte damit beruhigt werden, auch wenn er sich wunderte, wie eine Kasse, aus der viele kleine Ausgaben bestrichen, am Ende mit großen Scheinen gefüllt war. Außerdem wies sie ein Plus auf. Merkwürdig, aber das war besser als ein Minus.

Im »Gai-Moulin« war alle normal. Eine Leiche war in dem Lokal nicht gefunden worden. Wie konnte das sein?

Am anderen Ende der Stadt war ein Wärter umso mehr irritiert. Er hatte den Botanischen Garten zu bewachen und der große Wäschekorb gehörte nicht auf die Wiese, die er betrachtete. Ein Polizist wurde hinzugezogen, der neugierig darauf war, was in dem Korb war. Mithilfe eines Schlossers konnte das Geheimnis gelüftet werden: Ein toter Mann war darin verstaut worden. Die Leser:innen können erahnen, dass es sich dabei um den Fremden aus dem »Gai-Moulin« handelte, den die beiden Jungen im Restaurant leblos gesehen hatten. Wie kam er in den Botanischen Garten?

Chabot durfte sich zusätzlich darüber wundern, warum er von einem kräftigen Mann verfolgt wurde. Es konnte immer noch schlimmer kommen: Der Mann erkundigte sich in der Nachbarschaft bei ihm und die Nachfragerei wurde Chabots Mutter zugetragen.

Den Abend verbrachte er trotz aller Proteste seiner Mama nicht zu Hause, sondern im »Gai-Moulin«. Wäre ja auch komisch gewesen, wenn sie sich an einem so merkwürdigen Abend wie dem zuvor nicht blicken lassen würden. Aber auch Delfosse erzählte mysteriöse Dinge: Das Geld, was er seinem Onkel geklaut hatte, müsse er unbedingt loswerden – er wäre verfolgt worden. Ein Polizist, den er von einer Ermittlung in der Fabrik seiner Frau kennen würde. Chabot müsse sein das Geld auf der Toilette entsorgen.

Schade ums Geld. Aber es ließ sich nicht ändern. Blöd war nur, dass Chabot bei der Aktion von einem Polizisten erwischt und verhaftet wurde. Die Geschichte war am Laufen ... aber zur Lösung war es noch weit.

Reif

Natürlich kann man sich fragen, welche Überlegungen Delfosse und Chabot wohl angestellt hatten, um das Lokal bei dem geplanten Diebstahl zu verlassen. Schließlich waren sie doch eingeschlossen worden. Trotzdem war es kein Problem, nachdem sie den Schrecken ihres Lebens bekommen hatten, das Lokal zu verlassen. Das ist in meinen Augen ein kleiner Schönheitsfehler. Aber der Roman wirkt schon sehr reif und ich halte ihn für eine rundherum gelungene Maigret-Geschichte!

Ein interessantes Detail am Rande: Simenon schrieb den Roman im September 1931, zwei Monate später war der Roman in den Buchhandlungen zu finden. Im Januar 1932 schien das Ausgedachte Wirklichkeit zu werden: Ein Kommissar der Pariser Sûreté namens Parenau ermittelte in Lüttich, da es eine Verschwörung von Russen geben sollte. Einer der Bösewichter war im »Le Gai-Moulin« gesehen worden und war vor der Entführung eines russischen Generals verschwunden.