Der Impuls

Die frühen Maigret-Romane sind manchmal ein wenig fantastisch. Das gilt für »Pietr-le-Letton« genauso wie für den hier im Fokus stehenden »Le pendu de Saint-Pholien«. Sie bestehen an so mancher Stelle die »Kann das so passiert sein?«-Frage nicht.

Nehmen wir die Ausgangslage in diesem Roman: Maigret beobachtete in Brüssel, wo er dienstlich weilte, einen ärmlich aussehenden Mann, wie er mit einer großen Summe hantierte. Das Geld gab der Fremde mit der Post in einem Päckchen nach Paris auf und deklarierte es als Drucksache. Eigentlich nicht abwegig. Dann kaufte er sich einen Koffer. Maigret kaufte sich den gleichen Koffer. Der Mann begab sich zum Bahnhof und bestieg einen Zug nach Amsterdam – Maigret tat es ihm gleich. Dort angekommen kaufte er sich ein Billett in Richtung Bremen, wie auch Maigret es tat. Und auf dem Weg in die norddeutsche Hansestadt nutzte der Kommissar seine Chance und tauschte die beiden Koffer aus.

Das ist die chronologische Beschreibung dessen, was passiert war: Simenon ist geschickter und beginnt mit seiner Erzählung kurz vor dem Grenzübertritt nach Deutschland und schilderte, was daraufhin geschah (der Mann bemerkte in Bremen, dass sein Koffer nicht mehr sein Koffer war, rannte verzweifelt umher, um ihn doch noch wiederzuerlangen – ging nicht, da sein Gepäckstück im benachbarten Zimmer des Hotels bei Maigret weilte, von wo aus der Kommissar dem Schauspiel gleich einem Voyeur folgte –; und sich vor lauter Verzweiflung erschoss), und rollte von da an die Geschehnisse auf. 

Womit die Leser:innen aber schon mitten in der Geschichte sind und sich nicht mehr zwingend fragen: Warum ist der Kommissar in Brüssel in den Zug nach Holland gestiegen? Darf der das? Und da sind wir noch nicht einmal bei den Visa-Angelegenheiten angelangt, denn Freizügigkeit im Reiseverkehr innerhalb Europas war damals ein Fremdwort.

Wie dem auch sei: Blöderweise hat uns Simenon an der Stelle schon und Lesende sind nicht mehr mit den formalen Fragen beschäftigt, sondern fragen sich, was – in Gottes Namen – denn nun in dem Koffer war, dass sich der Fremde gezwungen sah, sich das Leben zu nehmen. Maigret war genauso verblüfft wie die ihm in der Geschichte folgenden: ein dreckiger Anzug von zweifelhafter Qualität. Der gehörte nicht einmal dem Verstorbenen, da die Größe nicht passte.

Noch merkwürdiger

Maigret nahm seine Untersuchungen auf. Schnell war herausgefunden, dass der Tote mit einem französischen Pass unterwegs war, dieser aber gefälscht war. Vielleicht war der Name, der in dem Pass verwendet worden war, der des Mannes – wahrscheinlicher war es jedoch, dass es sich um Alias handelte.

Irgendwas hatte der Unbekannte in Bremen gewollt. Seine Reise wirkte nicht so, als wäre er aus Vergnügen in die Hansestadt gefahren. Maigret überlegte, dass der Mann von einer Person in der Stadt erwartet worden war oder für seinen Tod interessieren könnte. So postierte sich der Franzose in dem deutschen Leichenschauhaus und beobachtete die Leute, die die Leichen begutachteten.

Schon bald wurde er auf einen Mann aufmerksam, der sich für den Verstorbenen interessierte. Der gab an, er hätte von dem Toten in der Zeitung gelesen und da in der Notiz gestanden hätte, dass es sich um einen Pariser handeln würde, wollte er mal nachschauen. Neugierde, denn er sei zwar Belgier, aber hätte lange Zeit in Paris gelebt. Paris hatte damals etwa drei Millionen Einwohner ... Joseph Van Damme, so stellte der Mann sich vor, wäre im Import-/Export-Geschäft tätig und lebe in Bremen.

Gefühlt nahm er Maigret an die Hand und führte ihn durch die Stadt, lud ihn ein und schmierte ihm Honig ums Maul. Warum machte er das, was war der Zweck. Maigret ließ sich nicht darauf ein, und als er die Untersuchungsergebnisse aus dem Bremer Labor vorliegen hatte, begab er sich zurück nach Paris. Da der Tote aus der Stadt stammte, hoffte er dort fündig zu werden.

Zurück in Paris gab es die erste Überraschung schon am Bahnhof: Jemand versuchte ihm den Koffer, der dem Toten gehört hatte, zu stehlen.

Rumgekommen

Die weiteren Ermittlungen führten den Kommissar nach Reims und Lüttich. Diese »Ausflüge« waren nicht behaglicher Natur. Maigret musste nicht nur einmal um sein Leben fürchten. Offenbar gab es Personen, die verhindern wollten, dass der Fall komplett aufgedeckt wird.

Mittendrin war Van Damme. Wann immer Maigret irgendwo aufkreuzte, war der Geschäftsmann aus Bremen schon da. Anfangs sehr freundlich und entgegenkommend, sollte die Mine es Belgiers mit der Zeit verkniffener werden.

Maigret hatte lange Zeit überhaupt keine Ahnung, worum es geht. Als er herausgefunden hatte, wie der Verstorbene hieß, brachte ihn das kein Schritt. Aber bei der Beantwortung der Frage, was diesen dazu gebracht hatte, sich wegen des Verlustes eines schäbigen Anzugs umzubringen, dafür fand Maigret keine Lösung.

Eine spannende Geschichte ist es allemal. Das Thema des Buches, das sich mit der Zeit herauskristallisiert, sollte Simenon sieben Jahre später im Roman »Die Verbrechen meiner Freunde«[RDVMF] wieder aufnehmen. In diesem schrieb er: »Die Verbrechen meiner Freunde ähneln den Verbrechen, die ich in meinen Büchern erzählt habe. Und nur weil sie wahr sind, weil ich die Täter kenne, kann ich unmöglich schreiben: ›Er hat getötet, weil…‹«

Die Verbundenheit mit Lüttich lässt sich an den vielen exakten Details festmachen, mit der er den Aufenthalt Maigrets schildert. Während Simenon den Leser:innen im Bremer Teil allgemeine Gebäude an die Hand gibt (irgendein Hotel, die Polizeiwache, der Hauptbahnhof) sowie mit dem Lloyd (ein eindrucksvolles Bauwerk) – aber Simenon verwendete keinen einzigen Straßennamen; werden in Lüttich sogar Gässchen und Parks benannt.