Eine ganz andere Affäre

Eine merkwürdige Wohngemeinschaft hatte sich da zusammengetan: William Brown war ein Schafzüchter a. D. aus Australien, der bei einer Reise nach Europa den Spaß an seinen Vierbeinern verloren und sich stattdessen an der Côte d'Azur und anderen tollen Orten auf dem alten Kontinent vergnügt hatte, bevor die ferne Familie den Geldhahn zudrehte. Die ganz hübschen Frauen mochten nicht auf eine versiegende Geldquelle setzen, aber für Gina Martini reichte wohl das, was Brown bot. Gemeinsam mit ihrer Mutter machte sie es sich in der Villa von Brown in Antibes so gemütlich, wie es ging. Die prächtige Umgebung konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nicht das traumhafte Leben war, was sich die beiden Damen erhofft hatten. Regelmäßig alle drei Wochen machte sich William davon und kam versoffen und stinkend nach etwa einer wieder. Und es war nicht so, dass er in der Zeit, die er mit ihnen verbrachte, der liebreizende und präsentable Kerl gewesen wäre, den sich alle Frauen wünschen.

Bei seinem letzten Mal trieb er es jedoch auf die Spitze: Sie fanden ihn leblos vor der Villa. Erst meinte das Mutter-Tochter-Gespann, er hätte diesmal mehr als üblich getrunken und wäre hoffnungslos besoffen, bevor sie realisierten, dass ihre Einnahmequelle ermordet worden war. Diese unerquickliche Wendung ihres Schicksals ließ Energie frei, die eher kinetischer Natur war – Nachdenken war nicht ihre Stärke gewesen. Also packten die Damen, was sie packen konnten, vergruben den Leichnam unachtsam und wenig professionell, bevor sie sich auf den Weg machten. Die Devise: Erst mal weg!

Ihre Flucht war sehr unprofessionell. William Brown besaß ein Wagen und sie waren der Meinung, dass Autofahren nicht schwer sein könne. Nur konnte sie es nicht und setzen das Fahrzeug neben die Straße. Sodann flüchteten sie zu Fuß. Hätten sie ein Taxi gerufen und wären abgefahren, niemand hätte es interessiert. Aber so war die Polizei neugierig geworden, fand erst die Frauen und dann den vergrabenen Leichnam des Australiers.

In die Tasche gesteckt

Die Nachricht vom Tod William Browns drang bis nach Paris und dort erinnerte sich jemand, dass der Mann einmal für einen Geheimdienst gearbeitet hatte. Wenn es eine Abrechnung war, dann galt es diskret zu ermitteln und deshalb wurde Kommissar Maigret gewählt, diesen Fall zu lösen.

Als der Kommissar in Antibes aus dem Zug stieg, war es, als hätte man einen Schalter umgelegt: Ferienstimmung! Der blaue Himmel, die Palmen, das Meer.

Wenn Inspektor Boutigues darüber empört war, dass nicht die örtliche Polizei den Fall bearbeiten sollte, so verbarg er es geschickt. Vielmehr hatte man den Eindruck, dass der Vertreter der Provinz-Ordnungshüter alle Informationen, die Maigret benötigte (und auch solche, die er nicht haben wollte), bereitstellte und ansonsten eifrig dabei war, dem Pariser einen angenehmen Aufenthalt in der Gegend zu garantieren.

Mochte die Umgebung noch so reizvoll sein, war man erst einmal in der Villa von Brown sah das mit dem Ambiente ganz anders aus. Maigret hatte nicht erwartet, dass es in einer Villa derart dreckig sein konnte und Brown so heruntergekommen lebte. Offenbar reichte das Budget nicht, ein Dienstmädchen zu engagieren. Die Idee, selber zu putzen, war den Bewohnern nicht gekommen. Der Kommissar ließ die beiden Damen in die Villa kommen, um mehr über den Ermordeten und ihr gemeinsames Leben zu erfahren.

Maigret fragte sich, ob der Mann wirklich glücklich gewesen war. Was hatte es beispielsweise mit seinen Abwesenheiten auf sich? Die beiden Frauen konnten ihm in der Frage nicht weiterhelfen. Auch sie hatten probiert, es herauszubekommen, aber Brown – der alte Agent – hatte es trickreich hinbekommen, sie abzuschütteln. Eine Verwechslung brachte den Pariser Kommissar auf die richtige Fährte. Er hatte beim Verlassen des Hauses nicht seinen Mantel gegriffen, sondern den von Brown. Die Verwechslung bemerkte er, als er in die Tasche griff und dort Spielchips fand. Er kombinierte, dass sich Brown nicht in den Bars von Antibes abtauchen würde und hatte im Ohr, dass Gina Martini ihm erzählt hatte, dass sie Browns Wagen in der Garage in Cannes gesehen hatte.

Liberty Bar

Der Kommissar begann eine Tour durch die Kneipen von Cannes. Ihm kam dabei zupass, dass die örtlichen Behörden gegen Spielautomaten vorgingen. Sie verboten die Geräte und setzten das Verbot durch. Zwischen den Betreibern und den Behörden gab es ein Katz-Maus-Spiel: Bald waren neue Varianten auf den Markt, die nicht unter das Verbot fielen und in den Lokalen aufgestellt wurden. Gerade befanden sie sich in der restriktiven Phase, in der die Regeln durchgesetzt wurden und Maigret musste nur ein Lokal finden, der durch die Maschen der Behörden geschlüpft war und in dem ein Automat stand. So fand er schließlich die titelgebende »Liberty Bar«.

Ein merkwürdiger Ort. Geführt wurde er von einer dicken Frau namens Jaja. Es kamen immer die gleichen Gäste und das waren nicht viele. Sylvie schien dort beispielsweise zu wohnen und wurde von der Wirtin bemuttert. Zu den Stammgästen gehörten auch ein Stewart auf einer Jacht und an ihm konnte Maigret studieren, wie das System »Liberty Bar« funktioniert. Jan, so hieß der junge Mann, brachte Fleisch mit, welches Jaja zubereitete und welches dann von den Gästen verzerrt wurde. Kam William Brown in die Kneipe, wurde es genauso gehandhabt. Sie aßen, tranken, spielten zusammen. Es war wie eine Familie.

Nach einer Woche machte er sich auf den Weg nach Hause, wo er schon erwartet wurde, und der Zyklus begann von Neuem.

Maigret hatte den Eindruck, dass das Geheimnis für den Tod des Mannes in der Bar in Cannes zu finden war. Die Damen in Antibes mochten anstrengend sein, aber durch das Ableben von William Brown hatten sie eindeutig verloren. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie für den Mord an dem Australier verantwortlich waren, schätzte Maigret als sehr gering ein. An eine Agenten-Affäre war überhaupt nicht zu denken, keine Indizien deuteten darauf hin.

Drei Familien

William Brown lebte in den Tag hinein und trotzdem war es kompliziert. Schwierig zu sagen, wo es weniger anstrengend war: In der heruntergekommenen Bar Jajas wurde mehr getrunken, »gesoffen« trifft es eher. Aber die Menschen schienen unkompliziert zu sein. In der Villa in Antibes war es andersherum – der Alkoholkonsum war limitiert. Die Damen achteten auf seine Gesundheit. Aber sie waren anstrengend und stellten Forderungen an ihn, die Jaja und ihre Freunde in der »Liberty Bar« nicht hatten.

Blieb noch die »richtige« Familie. Sein Sohn Harry Brown lebte in Europa und kümmerte sich um das Geschäft. Nun hatte er sich um die Bestattung des Vaters zu organisieren. Mit viel Liebe ist er nicht dabei, sondern es schaute eher danach aus, als würde er eine lästige Geschäftsangelegenheit zu erledigen haben. Eine Sache, die ihm genauso anstrengend war, wie der Streik der Hafenarbeiter in Amsterdam, die das Löschen seiner Ware verhinderte. Die Formalitäten, und das sagt viel aus, wurden von Inspektor Boutigues organisiert.

Die Beerdigung sollte die Gelegenheit sein, bei der die drei Familien das erste Mal aufeinanderstießen. Nicht nur Jaja war der Meinung, dass die Trauerfeier komisch gewesen war. Sie meinte im Anschluss, dass die Zeremonie nicht traurig gewesen wäre, wie sie erwartet hatte. Für die Lösung des Falles stellt die Feierlichkeit einen Wendepunkt dar. Von nun an entwickelten sich die Dinge mit einer eigenen Dynamik, die nicht mehr mit dem Urlaubsgefühl Maigrets korrespondierte.

Dieser Roman gehört in die erste Maigret-Periode. In dieser ließ Simenon seinen Kommissar mehr in der Provinz ermitteln als in Paris. Die beiden folgenden Romane, die ebenfalls zu dieser Ära gezählt werden können, spielen in Paris. Für den Kommissar stellt dieser Roman eine Premiere dar, denn zuvor hatte er nie an der Côte d'Azur ermittelt.

Wie in vielen der frühen Geschichten tritt hier Maigret als Einzel-Kämpfer auf. Inspektor Boutigues trägt nicht nennenswert zu den Ermittlungen bei und der Kommissar holt sich auch keine Hilfe bei seinen Mitarbeitern in Paris. Die Geschichte lebt von dem widerstrebenden Gefühl Maigrets, Ferien in der Gegend machen zu wollen, jedoch arbeiten zu müssen; dem Kontrast zwischen der verwahrlosten Villa, der heruntergekommenen Kneipe und der luxuriösen Bleibe Harry Browns; den Menschen, die unten angekommen waren, und denen, die mit Abscheu auf den Bodensatz der Gesellschaft schauten.

Obwohl das Urlaubsthema ein wichtiger Aspekt der Geschichte ist, sollte der Roman keinesfalls als launige Ferienlektüre gesehen werden. Er vielmehr eine Studie von Alkoholikern und armen Menschen (in verschiedenster Hinsicht); die Story eines Mannes, der auslotete, wie weit es nach unten gehen kann. So ist »Maigret in der Liberty Bar« ein hervorragender Roman, der auch für Einsteiger in das Maigret-/Simenon-Universum eine gute Wahl darstellt.