Über die Story

Xavier Lhomond war müde. Gerade eben hatte er noch die Akten durchgelesen, die seinen nächsten Fall betrafen. Der Gerichtspräsident wusste, dass eine Erkältung im Anmarsch war und hoffte inständig, dass sie ihn nicht behindern würde. Es erzeugte erhebliche Unannehmlichkeiten, wenn er krank werden würde – im schlimmsten Fall, müsste der Prozess neu aufgerollt werden.

Lhomond hatte zu Hause eine kranke Frau. Sie verließ das Bett nicht mehr und bekam regelmäßig Anfälle, die man mit Medikamenten mehr schlecht als recht in den Griff bekam. An diesem Abend ging es ihr wieder sehr schlecht und die Medikamente waren zu allem Überfluss alle. Da Lhomond den Eindruck hatte, dass sie die Medikamente unbedingt benötigte, machte er sich auf den Weg zur Apotheke. Mitten in der Nacht klingelte er bei dem Apotheker. Dieser war aber nicht nur recht alt, sondern auch ein wenig schwerhörig. Vielleicht schlief er auch schon. Zumindest machte er nicht auf. Der Jurist, erst ein wenig ratlos, macht sich auf den Weg zu einer Bar: dort sucht er eine Telefon und ruft den Apotheker an, um ihn darauf hinzuweisen, dass er noch Medikamente benötigt. Soweit so gut. Beim Verlassen der Bar, begegnete er dem Gerichtsrat Frissat und seiner Frau. Dieser hatte ihn sehr wohl erkannt, grüßte aber nicht. Die Bar, aus der Lhomond kam, war verrufen. Man darf wohl annehmen, dass der Kollege Lhomonds seine eigenen Schlüsse gezogen hatte. Vielleicht war es die Erkenntnis, dass sich Frissat sich so schnell ein Urteil gebildet hatte, ohne die ganze Causa zu kennen, die den folgenden Fall beeinflusste.

Lhomond hatte am nächsten Morgen den Eindruck, dass seine Kollegen hinter seinem Kollegen tuscheln. Vielleicht, so ging das Gerücht um, ist Lhomond dem Alkohol verfallen. Übelnehmen würde es ihm keiner, denn jeder wusste, dass es um die Frau des Gerichtspräsidenten nicht zum Besten stand. Verständlich, dass man dann irgendwo Trost suche – mancher tat das im Alkohol. Das hinderte keinen daran, dieses Gerücht zu verbreiten, denn es ist eine Neuigkeit.

Vor Gericht stand Diendonné Lambert. Die Anklage lautete auf Mord. Der Mann musste um seinen Kopf fürchten. Keiner hatte den Eindruck, dass er diesen Prozess sehr ernst nahm und um sein Haupt bangte. Er beharrte darauf, dass er mit dem Mord an seiner Frau nichts zu tun hatte.

Vielleicht lechzt jetzt der eine oder andere nach der Information, was denn passiert war; welches Verbrechen den Mann vor Gericht gebracht hatte. Ich will diese Informationssucht befriedigen: dem Mann wurde vorgeworfen, seine Frau in der Wohnung erschlagen zu haben, sie anschließend zu den Bahngleisen des Ortes geschleppt zu haben, wo sie dann von einem Zug in einen unappetitlichen Zustand gebracht wurde. Das klingt nach einer ganz normalen Beseitigungsmethode, um Spuren zu verwischen, wird aber von Geschworenen überhaupt nicht gemocht. Mord war schlimm genug, da muss man nicht noch zu geschmacklosen Methoden greifen, um die Leiche zu beseitigen. Der Eine oder Andere im Gerichtssaal dürfte davon ausgegangen sein, dass das Schicksal des Mannes klar war, zumal er – besonderes Manko – von einem Neuling verteidigt wurde.

Die Fülle von Tatsachen sprach gegen Lambert. Sein Einwand, er wäre viel zu betrunken gewesen, als dass er noch hätte seine Frau umbringen können, war einerseits glaubhaft – denn Lambert war ein stadtbekannter Trinker und Raufbold – klang aber andererseits wie eine billige Ausflucht. Eine billige Ausflucht?

Lhomond machte eine Erkältung zu schaffen. Er döste weg, der Prozess glitt ihm aus den Händen und so konnte er nicht jeder Aussage hundertprozentig folgen. Wie Lambert hatte er dagegen zu kämpfen, nicht Opfer von Vorurteilen zu werden. Die Chance, sich zu verteidigen, hatte er nicht wirklich: jeder sah, dass es dem Richter nicht gut ging. Die Schlussfolgerung richtete sich aber nach den Folgerungen des Monsieur Frissat: der Mann hat schwer mit Alkoholproblemen zu kämpfen und die Phänomene waren die Gleichen einer Erkältung: Müdigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten.

Ich glaube, dass es die Erkenntnis Lhomonds, dass sich Lambert und er in einer ähnlichen Situation befanden, war, die den Richter dazu bewegten, den Prozess auf unkonventionelle Art und Weise zu führen. Während es für die Kollegen nur Indizien waren, die ihren eigenen Befund bestätigten, war es für den jungen und unerfahrenen Verteidiger Lamberts eine Chance, das Leben seines Mandanten zu retten.

Gerichtsdramen sind immer gut geeignet, den Leser zu fesseln. Für sie gilt das Gleiche wie für Krimis, von denen Simenon sagte, dass sie auch schlecht sein könnten: Der Leser ist einfach gezwungen, bis zum Schluss zu lesen, wenn er wissen möchte, was passiert. Natürlich ist ein Roman von Simenon kein reiner Thriller. Er verwebt zwei Themen zu einem Roman. Zum einen bekommt der Leser den Prozess serviert, in dem es um den Kopf von dem keineswegs sympathischen Lambert geht; die andere Linie verfolgt das Leben des Gerichtspräsidenten, der sich mit den Verdächtigungen seiner Kollegen auseinanderzusetzen hat und zu Hause auch massive Probleme mit seiner Frau hat. Wie in anderen Romanen, lässt auch in diesem Roman Simenon den Gerichtspräsidenten neben der aktuellen Handlung Vergangenes vor dem Augen vorbeiziehen.