Über die Story

Immer diese Verteilungskämpfe! Kaum ist der gute Mensch unter der Erde, da geht es um Verteilungskämpfe. Das Ganze natürlich immer schön in den verschiedensten Variationen: in Die Witwe Couderc streiten sich die Beteiligten streng genommen schon vor dem Tod des Vaters um dessen Erbe, es geht um die Macht, wer den Mann bevormunden darf, um nach her ein größeres Stück am Kuchen abzubekommen. In Das Haus am Quai Notre-Dame geht der Kampf bricht der Kampf erst nach dem Tod des Mannes aus. Manchmal werden mit solchen Verteilungskämpfen komplette Familien zerrissen, wie es Simenon in Das Haus am Kanal beschrieben hat, in dem ein junges Mädchen kurz hintereinander zwei Verwandte verliebt und dann damit beschäftigt ist, die Familie ordentlich durcheinander zu wirbeln, in dem es mit ihren städtischen Manieren in die ländliche »Idylle« einbricht. Auch in »Der Tod des Auguste Mature« geht es um das Erbe eines Mannes.

Auguste Mature lebten im Hallenviertel von Paris. Davon ist heute nichts mehr zu sehen. Man wandelt durch das Viertel und sieht hin und wieder noch einmal einen Hinweis auf die Vergangenheit, aber doch sehr in Maßen. Wer kann sich noch vorstellen, dass das Leben an den Hallen, heute »Forum des Halles«, in den frühen Morgenstunden tobte, und nicht am Nachmittag, wenn man aus der Schule oder von der Arbeit kommt, um in dem Einkaufszentrum herumzustöbern? Die Hallen verschwinden, das hat auch schon Auguste Mature gewusst, zumindest geahnt. Sein Sohn Antoine wusste es und plante es ein. Sein Vater hatte das Restaurant aufgebaut, das jetzt florierte, und sein Sohn Antoine führte es gemeinsam mit ihm. Sehr erfolgreich, denn das Restaurant wurde von den Wohlbetuchten entdeckt und so beehren sich immer wieder Botschafter und andere hochgestellte Persönlichkeiten. Der alte Auguste wirbelte in dem Restaurant nicht mehr herum, sondern schlenderte von Tisch zu Tisch um Touristen und alte Bekannte zu begrüßen. Bei einer solchen Begebenheit stürzt er um und kurze Zeit später ist er verstorben. Aber die Show muss weitergeben und allein daraus ergibt sich für Antoine Mature schon jede Menge Ärger.

Mit seinen Brüdern. Die Rechtfertigung, dass das Geschäft weiterlaufen musste, lässt ihm sein älterer Bruder Ferdinand, ein Richter, noch durchgehen. Der jüngere Bruder, der das ist, was man gemeinhin das schwarze Schaf in der Familie nennt, mag sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden geben und behauptet, Antoine hätte nur die Zeit genutzt, um »Sachen« beiseite zu räumen. Zum Beispiel das Testament, was sich partout nicht finden lassen will. Die Erklärung, dass der alte Mann wahrscheinlich gar kein Testament aufgestellt hat, will Bernard, dem schwarzen Schaf, nicht einleuchten.

Bernard lebt so vor sich hin. Er hatte sich in der Vergangenheit nicht gescheut, in das Restaurant zu kommen, und von seinem Bruder Antoine Geld zu fordern, das er dringend brauchte, um entweder wichtige Geschäfte abzuschließen oder sich aus einer Notlage heraus zu befreien. Im Grunde nimmt er es Antoine übel, dass er das Geschäft mit dem Vater weitergeführt hatte und so einen guten Stand hatte. Denn Antoine hatte Geld - mehr Geld als Ferdinand, der ein recht erfolgreicher Beamter war.

Und dann sind da noch die Frauen. Auch hier eine Ungleichheit, wie sie deutlicher nicht sein kann. Auf der einen Seite die Frau von Antoine, die im Geschäft mit arbeitete, aber scheel angesehen wurde, da Antoine sie von der Straße geholt hatte. Man einer würde in ihr gern das schwarze Schaf sehen, aber nein, sie muss ja mit Antoine eine glückliche Ehe führen. Es waren zwar keine Kinder da, aber das spielte keine Rolle. Zumindest nicht für Veronique, die Frau von Ferdinand, die gleich darauf drängt, dass Ferdinand seine Interesse mit Nachdruck verteidigt. Sie hatten sich verkalkuliert und könnten das Geld des verstorbenen Vaters wirklich gut gebrauchen; genauso wie Nicole, die Freundin von Bernard, die - obwohl nicht mit Bernard verheiratet - noch am Abend des Todes des Restaurantbesitzers in der Lokalität auftaucht und die Rechte von Bernard verteidigt.

Antoine darf sich zu Recht wie im falschen Film vorkommen. Er hat immer die Arbeit gehabt, hat sich sein Geld sauber verdient und jetzt muss er mit dem Neid seiner Brüder leben, die nur an das eine denken. Antoine, dem das Schicksal seines Vaters näher geht, als jedem anderen, der sich um die Erbschaftsangelegenheiten kümmern soll und gleichzeitig nicht, weil er könnte die anderen hintergehen; dem übel genommen wird, dass er beim Vater geblieben ist und sich um ihn gekümmert hat.

Das ist die Stelle, wo ein jeder Leser einen Seufzer ausbricht und sagt: es ist doch immer das Gleiche. Für alle ist die Überraschung groß und auch Antoine ist mehr als überrascht, denn in einigen Angelegenheiten war sein Vater von der alten Schule: in finanzielle Angelegenheiten hat er sich von seinen Söhnen nicht hineinreden lassen.

Ein spannendes Buch, in dem Simenon nicht nur den Konflikt zwischen Brüdern und deren Angehörigen spannend schildert, sondern auch die Gelegenheit nutzt, dem Leser einen Blick hinter die Kulissen eines familiären Restaurantbetriebes zu geben. So werden Erinnerungen an die Schilderungen des Marktes in Der kleine Heilige oder dem eigenen Marktplatz-Besuch wach. Bernard kann der Leser hintenanstellen: ein Unruhefaktor, bei dem man nicht recht weiß, ob sein Handeln in dem Gefühl des »schlechter behandelt werden« resultiert oder einfach Boshaftigkeit ist.

Interessanter ist da schon Ferdinand. Wenn man die beiden älteren Brüder nebeneinander stellt und sich fragt, wer erfolgreicher ist, würden wahrscheinlich viele auf Ferdinand zeigen, denn der hatte seine Beamtenlaufbahn als Richter eingeschlagen und war erfolgreich (behandelte gerade einen spektakulären Fall); andererseits war Antoine materiell besser gestellt. Zu dem kommt noch - das soll als Letztes nicht etwa hintenanstehen, sondern eigentlich die Bedeutung unterstreichen -, dass der Wirt wesentlich zufriedener wirkte, als seine beiden Brüder.

Die Macht, Gäste glücklich zu machen, darf wohl auch nicht unterschätzt werden.