Frauen-Geschichten


Sind die Non-Maigrets von Simenon reine Männergeschichten? Auf den ersten Blick schon, so dass sich ein zweiter Blick auf prägnante Gestalten auf die Geschichten und Simenons Frauenbild geworfen werden soll.

Was wird uns heute für ein Bild von Frauen in den Medien vermittelt? Auf der Projektionsfläche erscheinen gestandene Frauen, erfolgreich im Beruf, möglichst prominent oder prominent verheiratet, mehrere Kinder an der Hand, gutaussehend, durchtrainiert und dann vielleicht auch noch witzig.

In Talk-Shows erzählen sie ausführlich, über das erfüllte Leben, das sie führen. Nehmen wir beispielsweise die ehemalige Familienministerin Ursula von der Leyen, bei der nie vergessen wird zu erwähnen, dass sie ausgebildete Zahnärztin ist und sieben Kinder hat. Der Vater ist Ernst Albrecht, der ehemalige Ministerpräsident von Niedersachsen. Ich habe leichte Zweifel, ob dies der Prototyp einer Frau ist, die im wahren Leben steht.

Eine Frau, die unter solchen Umständen Karriere in der Politik macht – pardon, mir fällt nichts Besseres ein – scheint im trauten Heim eher von Goldtellerchen zu essen, als sich Gedanken um den nächsten Einkaufszettel zu machen. Ein Prototyp scheint mir dies nicht zu sein.

Eine Familie mit drei Kindern und mittlerem Einkommen dürfte heute schon ihre Probleme haben durchzukommen. Alleinstehende Mütter, im schlimmsten Fall noch mit dem Problem konfrontiert, dass die Väter den Unterhalt nicht zahlen, werden vermutlich auch nur müde lächeln, wenn ihnen solch großartige Frauenpersönlichkeiten vorgeführt werden.

Das Optimum an Gleichberechtigung scheint trotz einer gewissen Anzahl von erfolgreichen Frauen noch nicht erreicht zu sein. Man sieht es an den Manager-Riegen deutscher Konzerne, in denen Frauen immer noch deutlich unterrepräsentiert sind. Die großen Star-Anwälte sind nicht Frauen. Die meisten Nobel-Preise, auch unter den deutschsprachigen Forschern, heimsen Männer ein.

Selbstverständlich hat sich mit den Jahren etwas getan, aber ist es der große Sprung für die Frauen gewesen? Ein Blick zurück kann nicht schaden, um zu schauen, wo Frauen standen und wo sie heute angelangt sind. Was bietet sich da als Referenz besser an, als das Werk von Simenon, der, beginnend mit den dreißiger Jahren, vierzig Jahre lang den Alltag der Menschen beobachtete?

Keine Referenz

Von allen Frauen, die in Simenons Werken geschildert werden, eignet sich Madame Maigret am wenigsten als Referenz. Selten kommt sie über den Status eines »Heimchen am Herd« hinaus. Madame Maigret stürzt zur Tür, sobald sie die Schritte ihres Mannes hört. Meist bevor sich der Schlüssel im Schloss gedreht hat, ist sie bereit seinen Mantel entgegenzunehmen und die Pantoffeln zu bringen. Natürlich wird bei den Maigrets kurze Zeit später das Essen auf den Tisch getragen, so wie es Monsieur Maigret mag.

Stundenlang wartet die Frau des Kommissars in der Wohnung darauf, dass ihr Mann zurückkommt. Ein Mann, der es all zu gern versäumt, kurz seiner Frau Bescheid zu geben, dass er es nicht zum Essen schaffen wird. Dieses Verhalten dürfte heute auf großen Widerspruch stoßen und zu mancher häuslichen Krise führen.

In literarischer Hinsicht ist Madame Maigret nicht mehr als ein wenig Füllmaterial, um die Abende des Kommissars plausibel zu gestalten. Wenn man von den angeführten Beispielen absieht, wird sie nur dafür benötigt, dass Maigret jemanden an der Hand oder im Arm hatte, neben jemandem im Kino sitzt. Die Frau entwickelt über die vielen Romane weniger Persönlichkeit als manches Haustier in der heutigen Krimiliteratur. Das klingt nicht charmant, aber Simenon sah es für die Maigrets wohl nicht als notwendig an, die Figur der Madame Maigret detaillierter zu beschreiben und mit Leben »zu füllen«.

Komparsen

Die meisten von Simenons literarischen Frauengestalten sind Komparsen. Hauptfiguren sind Männer, die von Frauen umgeben sind, die wie Madame Maigret ein Nischendasein fristen. Manchmal wird der männlichen Hauptfigur eine starke Gegenspielerin zur Seite gestellt, die aber häufig einen schlechten Einfluss – direkt oder indirekt – auf die Hauptfigur hat. In »Die Eisentreppe« schildert Simenon eindrucksvoll, wie Étienne Lomel langsam vergiftet wird und weiß, dass es seine Frau ist, die ihm nach dem Leben trachtet. Mit Louise Lomel findet sich eine Frau, die ihre Macht ausnutzt – Macht in doppelter Hinsicht. Zum einen ist sie diejenige in der Beziehung, die vermögend ist und zum anderen hat sie das Wissen, wie man Männer umbringt. Hinzu kommt, dass sie auf der Suche nach ihrem Glück ist. Das findet sie in Beziehungen zu jüngeren Männern. Erfüllt sie eine Beziehung nicht mehr, entsorgt sie sich derer.

Simenon erklärt die Morde in der Art, dass es für Louise Lomel nicht in Frage kommt, sich scheiden zu lassen, da sie katholisch ist. Da Scheidungen für die Kirche nicht zugelassen sind, Wiederverheiratungen von Witwen aber schon, »beseitigt« sie ihre Männer. Berücksichtigt sie dabei nicht, dass es für die Kirche nicht akzeptabel ist, wenn man einem anderen Menschen das Leben nimmt? Diese interessante Frage, die den Leser vielleicht brennend interessiert, wird von Simenon nicht geklärt, da er sich in der Geschichte auf die Leiden, das Denken und Fühlen von Étienne Lomel kapriziert.

So ergeht es einem auch, wenn man »Das blaue Zimmer« liest: Man sieht Tony in höchste Ungelegenheiten stürzen. Er wird des Mordes an seiner Frau verdächtigt, die Polizei findet allerlei Hinweise, die auf ihn als Täter hindeuten und – schlimmer noch – ein Motiv muss nicht konstruiert werden. Schließlich handelt es sich bei der zweiten Verdächtigen um seine Geliebte Andrée. Was hilft Tony die Erkenntnis, dass sie es gewesen war, die dafür gesorgt hat, dass seine Frau vergiftet worden war? Was Andrée dazu bewegt, die ihr fremde Frau umzubringen, bleibt vom Motiv her flach: Die Liebe zu Tony war es. Mehr an Erklärung kann nicht aufgeboten werden, lässt sich aus Simenons Text nicht herauslesen. ­Andrée bleibt in dem Roman ein Phantom.

Verlottert in Paris

Durch die prominent auf den Filmplakaten und später auch auf den Buchumschlägen positionierte Brigitte Bardot könnte man auf den Gedanken kommen, dass die Rolle der Yvette Maudet in »Im Falle eines Unfalls« auch eine wichtige in dem Buch wäre. Aber da täuscht man sich gewaltig. Schließlich spielt in der Geschichte nur einer eine gewichtige Rolle: Gobillot. Er ist es, der über die Affäre Tagebuch führt. Yvette kommt zu ihm, dem Rechtsanwalt, der erfolgreich die aussichtslosesten Fälle zu einem (verhältnismäßig) guten Ende führen kann. Gobillot paukt die größten Verbrecher heraus. Yvette mag sich ihm anbieten, aber der Rechtsanwalt ist es, der entscheidet, wann die Affäre beginnt und wohin steuert, so gut es ging, die Affäre. Gobillot verschafft der mittellosen Frau eine Wohnung in seiner Nähe. Nach seinem Terminplan steht sie zur Verfügung. Aus der Perspektive der Frau gesehen, teilt sich ihre Bedeutung, denn es gibt noch Yvonne, die Frau Gobillots, und die Sekretärin Mademoiselle Bordenave. Man kann aus gewissen Handlungsabläufen in der Geschichte auf die Gedankengänge der Frauen schließen, Thema für Simenon sind sie auch in diesem Buch nicht.

Die Rolle der Frauen ist höchst unglücklich: Mit Yvette tritt ein Konkubinen-Typ auf, der sich aushalten lässt, in den Tag hineinlebt und sich nur Gedanken darum macht, wie sie ihren Liebhaber und einen alten Geliebten unter einen Hut bringen soll. Ich habe das Gefühl, dass es Yvette einfach mit sich geschehen lässt. Der Mann, der ihr Geld gibt und die Wohnung bezahlt, will mit ihr schlafen – na fein, dann soll er doch. Gobillot steigert sich in etwas hinein, das durch die Konkurrenz des jüngeren Liebhabers noch gesteigert wird. Hätte er wirklich so viel Interesse an der Frau, wenn es nicht diesen Wettbewerb geben würde?

Yvonne hatte ihren früheren Mann für Gobillot geopfert. Sie nahm Gobillot zu ihrem Liebhaber, verließ ihren Mann und war dann Förderin von Gobillot in der Pariser Gesellschaft. Nun hat sie sich einen jüngeren Mann »gegriffen« und gerät durch das Auftreten der jungen Yvette plötzlich in eine unangenehme Situation: Sie ist immer noch eine der schönsten Frauen von Paris – nur, an »Frische« kann sie nicht mit Yvette mithalten. Letztlich passiert ihr jetzt das, was – auf einer anderen Ebene – ihrem ersten Ehemann widerfuhr. Yvonne spielt in dem Roman nur eine beobachtende Rolle – der Rechtsanwalt spricht nicht viel mit seiner Frau, ein Austausch von Gedanken findet überhaupt nicht statt.

Als dritte Frau im Bunde ist Gobillots Sekretärin zu nennen, die unsterblich in den Rechtsanwalt verliebt ist. Gobillot macht sich in seinem Tagebuch-Aufzeichnungen darüber Gedanken, kommt aber zu keinem schlüssigen Ergebnis. Die Frau ist ihm bedingungslos ergeben und leidet sichtlich unter seiner Affäre mit Yvette. Ihre Position ist nicht die, dass sie ihren Chef darauf ansprechen könnte. Gobillot ist an der Frau nicht interessiert, er beobachtet sie nur hin und wieder leidenschaftslos.

Eine wirklich starke, durchsetzungsfähige Frau wird von Gobillot in seinen Aufzeichnungen geschildert. Es handelt sich um Corinna de Langelle, die sich als Förderin von Jean Moriat, einem Politiker, betätigt. Gobillot stellt nüchtern fest, dass sich Yvonne, immerhin die beste Freundin von Corinna,  ein ähnliches Verhältnis in ihrer eigenen Ehe vorgestellt hatte. Nur war sie halt nicht wie ihre Freundin. Wichtig bleibt dabei festzuhalten, dass es Corinna vielleicht gelungen war, auf bestimmte Aspekte der Politik Einfluss zu nehmen. Aber wenn es hart auf hart kam, war sie nur eine Puppenspielerin, deren Puppe sich verheddern konnte.

Angetäuscht

Selbst in einem Roman, von dem man annehmen könnte, dass im Mittelpunkt der Geschichte eine Frau stehen würde – der Titel drängt es auf –, rückt mehr und mehr ein Mann in das Blickfeld des Schriftstellers. Ein gutes Beispiel dafür ist der Roman »Die Witwe Couderc«. Madame Couderc steht anfangs als Persönlichkeit gleichberechtigt neben Jean. Sie fahren gemeinsam in einem Bus, sie ist es, die den Blickkontakt herstellt und sich nicht überrascht zeigt, als sich Jean entschließt, mit ihr auszusteigen und sich ihr anzuschließen. Es stellt für sie kein Problem dar, ihn in ihrem Haushalt aufzunehmen – eine starke Frau, die sich gegen alle Männer in ihrer Umgebung durchzusetzen vermag.

Sie hatte einen Schwächling als Ehemann gehabt, die Männer in der angeheirateten Familie taugten auch nicht viel mehr. Das ging schon mit dem Vater ihres verstorbenen Mannes los, der sich schon zu dessen Lebzeiten an ihr verging und den sie »aus Mitleid« immer noch »ranließ«.

Sie stellt Jean als Knecht ein, ohne zu wissen, um wen es sich handelt, einfach darauf vertrauend, dass sie auch diesen Mann in den Griff bekommen würde. Sie fängt umgehend an, ihn zu dirigieren. Dabei weiß sie nicht, dass Jean das schwarze Schaf einer angesehenen Familie aus der Umgebung ist. Jean lässt sich herumkommandieren. Er pflegt, nachdem es zu einer Schlägerei zwischen den beiden Schwägerinnen gekommen war, Madame Couderc gesund und kümmert sich um Haus und Hof.

Simenon aber verfolgt mit dem Beginn der Pflegebedürftigkeit der Witwe die Beziehungsgeschichte zwischen dem ungleichen Paar nicht weiter. Auch die Beziehung Jeans zu der Nichte der Couderc wird sekundär. Vielmehr dringt Simenon tiefer in die Geschichte und das Seelenleben von Jean ein, der wegen Totschlag verurteilt worden war, obwohl das begangene Verbrechen Mord gewesen war. Madame Couderc mit ihren Gedanken und Nöten wird immer weiter in den Hintergrund gedrängt. In dem Schuld-und-Sühne-Thema von Jean spielt Madame Couderc nur noch eine bedauernswerte Rolle.

Schwestern

Ein faszinierendes Thema für Simenon scheinen offenbar Schwestern gewesen zu sein. Ein Motiv sind Frauen, die über das Leben von Männern bestimmen. Hierzu fallen einem gleich drei Geschichten ein, in denen das Motiv ausgelebt wird.

Da sind die »Bösen Schwestern von Concarneau«. Der deutsche Titel lässt schon Unangenehmes erahnen, aber in der Hinsicht wird man enttäuscht. Denn eigentlich ist es Jules Guérec, dessen Verhalten sehr zu wünschen übrig lässt. Es sind nicht die Schwestern, die einen jungen Burschen überfahren und Fahrerflucht begehen. Der Mann ist kein Leichtgewicht, weder von seiner gesellschaftlichen Stellung noch was seine körperlichen Ausmaße angeht.

Es dürfte heutzutage etwas verwundern, wenn ein Mann allein mit seinen Schwestern wohnt und ein Großteil seines Lebens von den Schwestern verwaltet wird. Immer wenn es Probleme gibt, kann er sich zurücklehnen und sich darauf verlassen, dass seine Schwestern die Probleme für ihn schon lösen Vielleicht gibt es mit dem Tod des Jungen einen Sinneswandel, aber der Weg den der Mann wählt, ist sehr fragwürdig, versucht er doch das Vertrauen und die Liebe von Marie, der Mutter des toten Buben, zu erschleichen.

Die beste Kennerin Jules’ ist seine Schwester Céline. Bevor Jules als Kind zum Beichten in die Kirche ging, kannte Céline seine Sünden schon und hatte entsprechende Gegenmaßnahmen ergriffen. Das war in der Kindheit so, daran hat sich nichts im Erwachsenenleben – Jules ist zum Zeitpunkt der Katastrophe immerhin schon 40 Jahre alt – geändert. So wurde die ungewollte Schwangerschaft einer Liebschaft Jules’ von den Schwester mittels Geld erledigt. Seine Schwester erkennt, dass die Möglichkeit nicht beichten zu können, ein Lügengerüst aufbauen zu müssen, Jules Guérec belastet und sie kann sich aus dem Verhalten und den Geschehnissen vor Ort, gut einen Reim machen.

Aber auch in diesem Roman bekommt der Leser nur die Resultate des Erkenntnisprozesses präsentiert. Aus welchen Verhaltensweisen Jules’ sich diese Erkenntnisse Célines ergeben, lässt sich nicht unbedingt erschließen. Aber sie ist es, die dem Spuk ein Ende macht: Mit dem bewährten Hilfsmittel – Geld – macht sie sich zu Marie auf, um ihr zu sagen, dass es ihr Bruder war, der den Sohn Maries bei dem Unfall getötet hat und dass es eine Heirat, wie vom Bruder versprochen, nie geben würde. Die Summe, die gezahlt wird, ist beachtlich und Marie muss sich per Unterschrift verpflichten, keine Ansprüche an die Guérecs zu stellen. So wird die Angelegenheit beendet.

Die zweite Schwester spielt so gut wie keine Rolle und stellt nur einen Puffer zwischen der energischen Schwester und dem gestandenen Mannsbild dar.

Fragwürdiger ist dagegen die Marie. Blass, emotionslos, gleichgültig – so lassen sich ihre Charakterzüge zusammenfassen. Der Tod ihres Sohnes, stellt Jules fest, berührt sie kaum. Sie lebt ihr Leben, ein Schicksalsschlag mehr oder weniger scheint keine Rolle zu spielen. Die Annährungsversuche von Jules duldet sie, mehr nicht. Jules bekommt nie heraus, was die Frau über ihn denkt. Sie scheint sich über seine Beweggründe keine Gedanken zu machen. Wolle er ihr eine Freude machen, sagt sie einmal, dann solle er dafür sorgen, dass sie die Wäsche für den Haushalt der Guérecs erledigen darf.

Der vierzigjährige Mann hat schon Probleme, wenn er ein paar Francs bei Prostituierten gelassen hat – wie soll er über eine Haushaltsfrage entscheiden können?

Der Niedergang dieser Familie ist durch diese Angelegenheit beschlossen, und eigentlich folgt darauf das Schema, welches im Roman »Das Testament Donadieu« sehr viel detaillierter beschrieben wird.

Drei Frauen

In einem ähnlich problematischen Spannungsfeld steht Jean in der Erzählung »Die Damen vom Ende der Welt«,der versucht herauszufinden, wer denn seine Eltern sind. Die beiden Schwestern haben dem jungen Mann eine abenteuerliche Geschichte aufgetischt, dass er der Sohn ihres gefallenen Bruders und seine Mutter gestorben wäre. Der gut aussehende Mann, der aufgrund der doppelten weiblichen Erziehung (so die Erklärung von Simenon) sehr weiche Charakterzüge hat, bekommt schon bald mit, dass das, was erzählt wird, nicht sein kann.

Im Dorf weiß man, dass die beiden Schwestern Hortense und Emilie vor vielen Jahren das Dorf verlassen hatten und einige Monate später mit Jean und der abenteuerlichen Geschichte zurückgekommen waren. Diese Erklärung war nicht gut genug und im Dorf mochte sie keiner glauben – hinter die Wahrheit war aber nie jemand gekommen – und so lebt Jean, der vor seiner eigenen Hochzeit steht, in völliger Ungewissheit, wer seine Mutter ist. Denn eine von den beiden Tanten musste es sein. Die Motive für das Verschweigen der wahren Mutterschaft sind übrigens sehr kurios: Die Nicht-Mutter wollte nicht zurückgesetzt werden vor dem Jungen und befürchtete wohl, dass sie von Jean weniger geliebt wurde. Dieses Motiv darf man erraten, denn Simenon beschränkt sich in der Erzählung darauf, die erfolgreiche Heimlichtuerei und die Lebensverhältnisse der Muschel- und Austernfischer zu beschreiben. Mit Schulterzucken würde man heute auch eine ungewollte Schwangerschaft hinnehmen. Man kannte damals schon Mittel und Wege abzutreiben, aber in der Abwägung zwischen der einen und der anderen, in beiden Fällen – meiner Ansicht nach – vermeintlichen Sünde, hat man sich für das geringere Übel entschieden. Das war damals auch eine Frage der Gesundheit, allzuviele Frauen kamen bei Kurpfuscherinnen ums Leben.

Heute lässt man abtreiben oder entscheidet sich dafür, das Kind allein aufzuziehen. Hat man sich für das eine oder andere entschieden, kräht kein Hahn mehr nach dem Vater. Damals war die unmittelbare Umgebung sehr daran interessiert zu erfahren, wer denn der Erzeuger gewesen war. In Jeans Fall war es ein Knecht des Dorfes, der immer noch in der Gegend lebt und die meiste Zeit sturzbetrunken ist. Diese Schande ist der zweite Grund, warum sich die beiden Frauen gegenüber Jean sehr geheimnisvoll geben, denn hatte er erst einmal die Frage der nach Mutter geklärt, würde sich zwangsläufig auch die Vater-Frage stellen.

Einzelkämpferin

Bestimmte Geschichten Simenons kann man uneingeschränkt zeitlos nennen: »Die Witwe Couderc« gehört zu diesen Romanen; auch »Im Falle eines Unfalls« lässt sich gut in die heutige Zeit übertragen, – sogar, auch ein interessanter Gedanke – mit umgekehrten Vorzeichen. Die Konstellation, dass ein Mann im besten Mannesalter mit seinen beiden Schwestern zusammenlebt, scheint mir schon weniger wahrscheinlich. Der Aufwand, den die Mutter und die Tante betrieben haben, um ein Lügengerüst um Jeans Herkunft aufzubauen, ist zumindest in Europa veraltet und wäre völlig unnötig. Die Romane Simenons, in denen Frauen im Vordergrund stehen, lassen sich ebenfalls so aufteilen. »Tante Jeanne« lässt sich immer noch eins zu eins übertragen, bei der Geschichte um »Betty« muss man hingegen Abstriche vornehmen.

Vor 35 Jahren hatte Jeanne Martineau ihr Elternhaus verlassen – in ihren Erinnerungen ein blühendes Haus. Nun ist Jeanne alt und krank, hat vor, um Versöhnung mit der Familie zu bitten, um ihr Altenteil fristen zu können. Sie sieht sich als Bettlerin, wie ein geschundener alter Hund. Bevor sie sich zu ihrer Familie, der Familie ihres Bruders, wagt, trinkt sie sich mit Cognac Mut an.
Jeanne betritt die Szenerie in dem Augenblick, in dem alles im Haus zusammenbricht. Ihr Bruder Robert hat sich auf dem Dachboden erhängt, seine Frau bricht daraufhin – verständlicherweise – zusammen. Die Kinder sind zu dem Zeitpunkt aus dem Haus, »treiben« sich herum. Zurück im Haus bleiben nur die Witwe des kürzlich verunglückten älteren Sohnes Roberts mit ihrem Baby. Die junge Frau ist als Mutter völlig überfordert und lässt das Geschrei des Säuglings apathisch über sich ergehen. Man sollte meinen, dass dies für eine alte, kranke Frau, eine schier übergroße Herausforderung ist.

Aber Jeanne vergisst ihr Selbstmitleid, tritt nicht die Flucht an, sondern macht sich daran, den Haushalt zu organisieren. Sie nimmt sich jeden einzeln vor: den Sohn, der durch ihr Handeln seine Autorität in Frage gestellt sieht; die Tochter, die mit dem Leben ihrer Eltern nichts anfangen kann und sich mit dem Gedanken trägt, von zu Hause fortzugehen und die Witwe, die ihre Probleme in Alkohol ertränkt. Schnell merkt Jeanne, dass sie es mit einem kaputten Haushalt zu tun hat, in dem sie eines zu tun hatte: Sie muss die Bewohner einen, denn die Herausforderungen, die vor der Familie stehen, sind immens.

Da ist der Selbstmord des Vaters: Man bringt sich nicht um, das gibt Probleme mit der Kirche.

Da ist die Firma: Jeanne wird vom Buchhalter ins Vertrauen gezogen, der ihr mitteilt, dass kein Geld vorhanden sei – die Familie ist pleite.

Und da ist die Familie, in der jeder gegen jeden angeht und in der Solidarität ein Fremdwort ist.

Behutsam nimmt sich Jeanne die einzelnen Bewohner vor und »fängt« sie mit ihrer Lebenserfahrung, ihrer Güte und Ruhe. Sie macht Henri zum Hausherren, nimmt ihn in die Verantwortung.
In Madeleine sieht sie ihre eigene Vergangenheit, ihren eigenen Weg, der – rückblickend – in einem verpfuschten Leben mündet hatte. Die junge Frau reagiert bockig auf die Versuche von Jeanne und verkündet, dass sie das Haus verlassen wird. Jeanne bettelt nicht um ein Dableiben, versucht es nicht auf die Mitleidstour, dass die Familie zusammenhalten müsse. Sie begleitet Madeleine zu nächtlicher Stunde zum Bahnhof. Das Verhalten ihrer Tante entspricht nicht dem, das die junge Frau erwartet hatte. Es nötigt ihr Respekt ab – und sie folgt Jeanne nach Hause. Am nächsten Tag öffnet sie sich ihrer Tante, erzählt von ihrem Werdegang und Jeanne erkennt, dass die Geschichte von Madeleine große Parallelen zu ihrer eigenen hat – ein Leben, das in den Augen von Jeannes verpfuscht ist.

Simenon erzählt von Jeannes Leben nur in Fragmenten, es wird viel in Andeutungen gearbeitet – aber man spürt als Leser, dass diese wenigen Tage, die Jeanne in ihrem Geburtshaus bleiben, ein Höhepunkt in ihrem Leben sind. Jeanne gibt viel Menschlichkeit und Hilfe, dass die Menschen schwer in ihrer Schuld stehen. Um einen Satz von Simenon abzuwandeln: Es sind die Tage nach der Katastrophe, an denen man das Leben von Jeanne Martineau messen sollte.

Eigenverantwortung

Nehmen wir »gute« Persönlichkeiten, so würde ich auch die junge Marie aus »Die Marie vom Hafen« an erster Stelle nennen. Der Vater ist gestorben, die Mutter schon lange tot. Nun geht es darum, die Besitztümer zu verteilen. Es sind noch ein paar Kinder übrig, die unter den Verwandten aufgeteilt werden (interessant hier übrigens auch die Argumentation beim Aufteilen: Der kann schon arbeiten, und der nicht, deshalb musst du den und den noch mitnehmen – die Assoziation mit Viehaufteilung sei erlaubt. Ein ähnliches Verhalten ist übrigens auch in Schulen zu beobachten, wenn zum Beispiel im Sportunterricht Mannschaften zusammengestellt werden.). Marie widersetzt sich dem Ansinnen ihrer Onkel und schreitet dagegen ein. Entgegen den üblichen Gepflogenheiten, setzt sie durch, dass sie für volljährig erklärt wird.

Odile, die ältere Schwester, spielt in dem Geschachere keine Rolle, ist sie doch das schwarze Schaf in der Familie. Sie hatte sich schon früher nach Cherbourg abgesetzt, wo sie die Geliebte des ehemaligen Fischers und Kneipenbesitzers Chatelard ist. Der lernt bei der Beerdigung Odiles Schwester Marie kennen und ist, obwohl er es nicht zugeben will, fasziniert von dem Mädchen.
Marie ist weder hübsch noch auffällig. Man könnte sie einfach eigensinnig nennen. Sie weiß genau, was sie will, hat ihre Vorstellungen, ist aber verschlossen wie eine Auster und hat nicht vor, ihre Pläne anderen – auch nicht ihrer Familie – mitzuteilen, obwohl, und das ist bemerkenswert, sie nur das Beste im Sinn hat.

Nun entspinnt sich in dem Buch ein interessanter Zweikampf zwischen dem Begehren Chatelards und der Widerstandskraft Maries. Fast kippt das Buch und widmet sich ausschließlich dem verwirrten Gefühlsleben Chatelards, der es gewohnt ist, jede Frau zu bekommen. Erstaunlicherweise wechselt dann die Perspektive, was für einen Roman von Simenon sehr ungewöhnlich ist, beobachtet er doch meistens nur eine Person in seinen Geschichten und wir bekommen es mit Marie pur zu tun.

Plötzlich wird klarer, was sich Marie erhofft. Betrachtet man die damaligen Verhältnisse, finde ich Marie erstaunlich emanzipiert. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts entstand eine neue Frauenbewegung (Stichwort: Suffragetten), die die bürgerlichen Rechte, die bislang den Männern vorbehalten waren, auch für sich einforderte. Man kann davon ausgehen, dass bei dem Bildungstand von Marie, die in einem kleinen Fischerdorf in der Nähe von Cherbourg lebt, die Suffragetten-Bewegung keine Rolle spielt. Maries Unabhängigkeitskampf rührt aus ihrer Persönlichkeit. Das ist es, was sie letztlich sympathisch macht und worin sie ihrer Schwester überlegen ist.

Interessant, wenn auch in diesem Kontext nebensächlich, ist auch die Entwicklung von Chatelard. Der ausgewiesene Macho versucht Marie einfach zu »besitzen«, um dadurch Fakten zu schaffen. Dieses Ansinnen scheitert und er ist gezwungen, sich mit Frauen als Persönlichkeiten auseinanderzusetzen, ein Entwicklungsprozess, der übrigens seine Umgebung stark nervte.

Die Hexe

Eine ebenfalls recht junge und emanzipierte Dame findet sich in »Das Haus am Kanal«. Mit Edmée, sechzehn Jahre alt, tritt eine Person auf das Handlungsparkett, welche nicht die einzige »böse« Frau in dem Simenonschen Universum ist, aber durch ihr Alter sicher einzigartig. Betrachtet man die Männer, die sich fragwürdig verhalten, so kann man beobachten, dass diese meistens die Sache selbst in die Hand nehmen. Edmée beschränkt sich darauf, Männer zu verwerflichen Handlungen anzustiften. Die Zwischenüberschrift »Die Hexe« trifft es ganz gut, ist aber nicht auf meinem »Mist« gewachsen: Es ist der Titel der ersten deutschen Ausgabe dieses Romans.

Der Roman beginnt damit, dass Edmée nach Neroteren zu Verwandten fährt, die sie in ihre Obhut nehmen. Ihr Vater ist gerade verstorben, und als sie bei ihren Verwandten in der flämischen Provinz eintrifft, ist dort tragischerweise ihr Onkel nach einem Unfall verschieden. In dieses Wirrwarr tritt Edmée, die ganz anders als ihre Tante und deren Töchter ist, und um ihre Wirkung (reine Haut, städtisches Benehmen) auf ihre Cousins und die weitere Umgebung weiß. Obwohl in der Situation jeder mit anpacken muss, fühlt sich die junge Brüsselerin wie ein Pensionsgast und führt sich auch so auf. Während Fred, der Älteste und damit auch das neue Familienoberhaupt, sie anfangs ignoriert, fühlt sich Jef gleich zu Edmée hingezogen. Seine Chancen bei dem Mädchen stehen ausgesprochen schlecht: Der junge Mann ist hässlich und eigenbrötlerisch. Dafür kennt er die Ländereien in- und auswendig und ist die eigentlich führende Hand auf dem Hof. Edmée schließt sich Jef an und lungert bei ihm herum, während er seine täglichen Arbeiten verrichtet. Sie bekommt mit, wie er Eichhörnchen tötet und ist von diesem Vorgang absolut fasziniert. Sie fordert ihn auf, diese Tiere für sie zu töten. Wohlwissend, was sie sagt, erwähnt sie auch, dass sie nur für Jemanden zu haben sei, der etwas für sie riskiert, beispielsweise Schmuck aus der Kirche stiehlt. Das Ganze hat eine erpresserische Note, da Edmée genau weiß, dass Jef alles für sie tun würde – und es auch tut.

In dieser Entwicklung spielt Fred noch keine Rolle. Der ist mit seinen Mädchen in der Stadt beschäftigt, in der er den großen Mann spielt und ganz nebenbei die Familie in den wirtschaftlichen Ruin treibt. Sein Interesse an Edmée erwacht erst, als er merkt, dass er sie nicht einfach so haben kann, wie er es eigentlich gewohnt ist. An dieser Stelle müsste eigentlich ein ähnlicher Handlungsmechanismus greifen, wie man ihn auch in »Die Marie vom Hafen« kennt: Der Mann gibt sich alle Mühe das Mädchen zu erobern und zeigt sich dazu von seiner besten Seite, das Mädchen hält sich weiterhin zurück.
Ersteres tritt auch ein: Fred zeigt sich von seiner besten Seite – allerdings nur in der Zeit, die er im eigenen Haus verbringt. Edmée dagegen fängt an, Fred gefallen zu wollen. Sie bewirtet ihn in seinem Heim und löst damit große Verwunderung aus. Ausgerechnet sie, die bislang keinen Finger im Haushalt gerührt hat, sich vor jeder Arbeit gedrückt hat, fängt an Fred zu bekochen. Andererseits rennt sie Fred auch in der Stadt nach, folgt ihm in die Lokalitäten, in denen er sich mit anderen Frauen trifft und die eine Heranwachsende meiden sollte.

Will man es zusammenfassen, so beschreibt Simenon in diesem Roman, wie zwei recht unsympathische Figuren zusammenfinden. Edmée ist das Kontrastprogramm zu Marie. Sie ist vollkommen egoistisch, nicht anpassungswillig und darauf bedacht, andere Menschen auszunutzen. Sie betrachtet die Leute, die sie aufgenommen und ihr ein Heim gegeben haben, mit Abscheu und schaut auf sie herab. Wie die Faust aufs Auge passt zu Edmée der Spruch »Hochmut kommt vor dem Fall«.

Ein ganz eigener Fall

Die beiden zuletzt erwähnten Romane lassen sich gut in ein Schwarz-Weiß-Schema pressen: Marie die Gute, Edmée die Böse.

Mit »Betty« tut man sich da etwas schwerer. Der Roman ist, so finde ich, sehr interessant angelegt. Zuerst wird der tiefe Fall von Betty präsentiert. Der Leser weiß noch gar nicht, was die junge Frau in diese Situation gebracht hat. Sie ist in einer Bar, in die sie nicht hineingehört, die aber nicht von Leuten frequentiert wird, die ärmlich sind. Es ist viel mehr ein Ort, an dem man trotz Geld unglücklich (und beziehungsweise oder glücklich) sein darf.

Betty hatte einiges hinter sich. Man erfährt, dass sie sich seit Tagen nicht mehr gewaschen hat und ihre Strümpfe haben Laufmaschen. Einer Frau, die sich durch solch ein Missgeschick genervt fühlt, kann es vor einiger Zeit noch nicht allzu schlecht gegangen sein. An diesem Abend betrinkt sie sich in der Bar hoffnungslos und wird von Laure, einem Stammgast, gerettet. Sie nimmt Betty mit zu sich ins Hotel, sorgt dafür, dass sie ein Zimmer neben dem ihren bekommt und versorgt sie. Sie verschwendet keinen Gedanken daran, ob sich die junge Frau diese Unterkunft überhaupt leisten kann. Ohne großen Kommentar nimmt sie Betty unter ihre Fittiche. Nachdem diese ihren Rausch ausgeschlafen hat, erfährt man, wie sich Betty in diese Lage gebracht hat. Aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammen, hatte sich der Sohn eines Generals in sie verliebt und sie geheiratet. Damit beginnt für die zierliche Betty ein langweiliges Leben. Sie hat Kinder zu gebären, um deren »Aufzucht« kümmert sich ein Kindermädchen.

Betty langweilt sich fürchterlich und flüchtet sich in Bars und Kneipen, in denen sie einen Musiker kennenlernt. Sie beginnt ein Liebesverhältnis mit ihm, dem sie in seiner Wohnung nachgehen. Eines Abends, die Schwiegermutter ist mit Bettys Mann ins Theater gegangen, kommt die junge Frau auf die Idee, ihren Liebhaber zu sich nach Hause einzuladen. Sie wähnt sich sicher: Das Kindermädchen ist schon in seinem Zimmer, die Kinder schlafen und so würde ihr Liebesspiel im Wohnzimmer nichts stören.

Ein fataler Irrtum wie sich kurz darauf herausstellt, denn ihr Mann kommt mit seiner Mutter unverhofft früh zurück. Die Überraschung ist beidseitig. Damit ist allerdings war Bettys großbürgerliche Karriere beendet. Sie muss alle Ansprüche an den Kindern abtreten und wird abgefunden.

Zu außerehelichen Affären kann man stehen wie man will, ihnen im eigenen Haushalt nachzugehen, zeigt aber eine gewisse selbstzerstörerische Tendenz. Betty muss klar gewesen sein, dass eine Affäre von der Familie ihres Mannes nicht toleriert werden würde. Hätte ein Freund Bettys Ehemann davon berichtet, er hätte Betty an merkwürdigen Orten mit fremden Männern getroffen, wäre es gut vorstellbar, dass der Ehemann ein Auge zugedrückt hätte – gibt doch Betty selbst an, dass ihr Mann ihr zugetan sei. Solche Kompromisse kann er selbstverständlich nicht eingehen, wenn er seine Frau im Beisein seiner Mutter beim Liebesakt im heimischen Wohnzimmer entdeckt. Von einer solchen Kompromissbereitschaft (geschweige denn von Verständnis) sollte man auch in der heutigen Zeit nicht ausgehen. Über den Vertrauensbruch hinaus stellt dieses Verhalten auch eine grobe Beleidigung der Beziehung und, vielleicht unbewusst, eine Herabsetzung der großbürgerlichen Familie, ihres Lebensstils und ihrer Werte dar.

Ein Erklärungsversuch wird in dem Roman geliefert: Bettys Mutter hatte vieles für »schmutzig« erklärt und mit ihrem Sauberkeitsfimmel Ehemann und Tochter traktiert. Eine in Bettys Elternhaus gefallene Bemerkung der Mutter, dass die Schürze des Vaters vor Schmutz stehen würde, hatte dafür gesorgt, dass sie sich mit ihrem Vater solidarisierte. »Betty wollte schmutzig sein, um so zu sein wie ihr Vater.« Der äußerliche Schmutz, der störte sie als Erwachsene, wie schon erwähnt. Mit der Ethik sah es nicht ganz so sauber aus, hier hatte Betty immer noch das Bedürfnis schmutzig zu sein. Während man die Geschichte ihres Werdegangs nachvollzieht, bahnt sich schon die nächste schmutzige Geschichte an. Laure, Bettys helfende Hand, pflegt ein Verhältnis mit Mario, dem Besitzer der Bar, und Betty kennt keine Scham und verführt Mario, wohlwissend, dass sie genausogut Laure hinterrücks erdolchen könnte. Mitleid hat man dann nicht mehr.

Damals, heute

Die Geschichte von Marie lässt sich nicht einfach auf die heutige Zeit übertragen – das funktioniert nicht, da Mädchen heute mit 18 Jahren eine andere gesellschaftliche Stellung haben als vor achtzig Jahren. Sie sind volljährig und dürfen über ihr Leben voll und ganz bestimmen. Dass es in der Realität ein wenig anders aussehen mag, liegt aber mehr an wirtschaftlichen und emotionalen Abhängigkeiten denn an gesellschaftlichen Vorgaben. Auch das Schicksal der zwei Jahre jüngeren Edmée lässt sich nicht ohne weiteres in die heutige Zeit übertragen. Es ist auch heute noch gang und gäbe, beim Tod der Eltern die Vormundschaft für Minderjährige auf die nahe Verwandtschaft zu übertragen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass diese die Kinder nicht unbedingt in ein Internat abschieben, aber es dürfte heute nicht mehr erwartet werden, dass das Mündel auf dem Hof mitarbeitet oder für den Lebensunterhalt der Familie sorgt. Die Geschichte um Betty dagegen ist zeitlos: Auch heute gibt es noch Personen – egal ob männlichen oder weiblichen Geschlechts – die sich moralisch sehr fragwürdig verhalten. Das Hintergehen von Menschen, die einen lieben und schützen, ist mit den Jahren nicht aus der Mode gekommen. Es gelten immer noch gewisse Standards in den Familien, und so gibt es weiterhin die sogenannten »Schwarzen Schafe«, auf die mit scheelen Augen geblickt wird.

So ist auch heute noch ein Schicksal wie das von Jeanne Martineau gut vorstellbar, die in jungen Jahren die Familie verlassen hat, auch, weil sie sich deren Wertevorstellungen nicht unterwerfen wollte. Dass eine solche Frau dann nach Jahren wieder in die Heimat zurückkehrt und eine Situation vorfindet, wie in »Tante Jeanne« geschildert – warum nicht? Das liegt für mich nicht außerhalb des Vorstellbaren.