Über die Story

Gerade, kurz bevor ich anfing zu schreiben, schoss mir eine Frage durch den Kopf: Gibt es Maigristen? Na klar, ist Ihre Antwort. Derjenige, der solch eine Seite pflegt, muss wohl einer sein. Hmm, damit könnten Sie recht haben – wenn ich das auch nicht so sehe. Nun ja, seit Jahren hielt ich eine Erzählung in den Händen, die ich nie zuvor gelesen hatte. Es gab nur eins: Nach Hause und alles Rundherum vergessen. Kurz nur hatte ich Zweifel: Wenn es nun eine schlechte Erzählung ist, was dann? Nicht alle Erzählungen sind brillant (so wie hier auch nicht alle Erzählungen mit Herz beschrieben sind – pardon!), was, wenn meine Vorfreude bitterlich enttäuscht würde.

Das war nicht der Fall: Die Geschichte um den einsamen Mann ist gut geschrieben, fesselt einen sofort und entwickelte sich so nicht zu einer Enttäuschung.

Die üblichen Ungereimtheiten einmal vorneweg: Die Erzählung spielt im Jahre 1965, Maigret ist 55 Jahre alt. Nun ja, über das Geburtsjahr und die daraus folgenden Alterskonsequenzen habe mich schon an anderer Stelle ausgelassen. Die zweite Ungereimtheit sei an späterer Stelle erläutert…

Die Erzählung spielt im August, die meisten Mitarbeiter Maigrets sind im Urlaub. Langweilig ist es und Maigret ist glücklich darüber, dass mit seinen Mitarbeitern auch die Verbrecher in den Urlaub entschwunden sind und dort ihr Unwesen treiben. Eine große Sache könnte er zur Zeit überhaupt nicht bearbeiten. Einen kleinen Mord vielleicht…

Der wird ihm frei Haus geliefert! Ein Kommissar des ersten Arrondissements rief an und meldet, dass er es begrüßen würde, wenn Maigret sich bei ihm einfinden würde. Ein Junge, dessen Freunde in den Ferien sind, dessen Vater aber ein Geschäft betreibt und deshalb in Paris geblieben ist, war dabei, seinen Bezirk zu erobern und alle Winkel zu durchstöbern. Dabei stieß er auf ein verfallenes Haus, in dem er niemanden mehr vermutete, in dem er aber einen Toten fand. Der Mann, den der Junge fand, hatte keinen Ausweis und keine Kennkarte bei sich, war eindeutig ein Clochard und war mit drei Schüssen umgebracht worden. Was nicht nur den Kommissar des ersten Arrondissements ins Grübeln brachte, war die Tatsache, dass man einen Clochard (zum Thema: »Maigret und der Clochard«) umbrachte, sondern auch, dass der Mann sehr gepflegt wirkte.

Bevor er irgendetwas anfangen konnte, war natürlich der Name wichtig. In der näheren Umgebung schien ihn niemand zu kennen, zumindest nicht mit Namen. Maigret bekommt zumindest heraus, dass er von seinem Friseur Aristo genannt wurde, wegen seines Auftritts, andere bestätigen Maigret und seinen Inspektoren, dass der Mann mit niemandem ein Wort gewechselt hat und keinen Alkohol trank. Er passte nicht in die Penner-Umgebung.

Was tut man? Man fotografiert den Toten und veröffentlicht das Bild in der Zeitung. Dann wartet man geduldig, ob was passiert. Wenn man Glück hat, ruft jemand an.

Wenn man Pech hat, legt der Anrufer gleich wieder auf, sobald man nach seinem Namen fragt. Zuerst ruft beim Kommissar eine ältere Frau an, die sich nach einer Narbe am Kopf erkundigt, um dann gleich wieder aufzulegen. Das Gleiche passiert kurze Zeit später, allerdings ist es da eine jüngere Frau, die ohne ihre Identität preiszugeben, sich nach einer Narbe beim Verstorbenen erkundigt. Maigret ist irritiert und wütend: er hat zwei Menschen in Paris, die zu wissen scheinen, wer der Mann ist, aber weder verraten wollen, wie der Mann heißt, geschweige denn, wie sie heißen.

Dann ein alter Mann im Büro der Kriminalpolizei, der Kommissar ist selbstverständlich auch anwesend:

»In meinem Viertel nennt man mich den Colonel. Freilich bin ich nie Oberst, sondern nur Hauptmann gewesen… Als 1914 der Krieg ausbrach, befand ich mich gerade auf der Offiziersschule. Ich war in Verdun und auch in Chemin des Dames. Aus Verdun kam ich heil heraus, aber in Chemin des Dames wurde ich durch einen Granatsplitter am Bein verletzt, deshalb ziehe ich es heute noch nach. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges hatte ich die Altersgrenze überschritten, und man wollte mich nicht mehr…«
Er hatte eine hohe sehr hohe Meinung von sich, das war offenkundig. Der Kommissar wappnete sich mit Geduld. Er hoffte nur, dass der Oberst ihm nicht sein ganzes Leben in allen Einzelheiten erzählen würde.
Doch statt dessen fragte er ganz unvermittelt:
»Haben Sie ihn identifiziert?«
»Noch nicht…«
»Wenn mich nicht alles täuscht, aber das würde mich schon sehr wundern, heißt er Marcel Vivien.«

Na, das war doch mal eine Überraschung. So fand Maigret auf einen Schlag heraus, dass der Mann Vivien heißt, einmal verheiratet gewesen ist und in der Nähe des Pigalle eine Tischlerei besessen hat. Seine Tochter war in der Zeit, in der der Colonel den Tischler aus den Augen verloren hatte, acht Jahre alt. Wer die Anruferinnen waren, konnte sich Maigret jetzt an bei den Fingern abzählen. Nun gilt es nur noch den Mörder zu finden…

Was irritierend ist, sei noch erwähnt. Maigret lässt den Namen in der Zeitung zusammen mit anderen Fotos veröffentlichen. Die Inspektoren kämpfen sich mühsam durch ganze Wohngebiete und hin und wieder passiert es, dass ihnen Leute begegnen, die sagen: »Ahh, der Vivien. Ja, den kenne ich von früher. Ich habe sein Bild in der Zeitung gesehen, der ist doch tot?« Warum haben die sich nicht bei der Polizei gemeldet, wo doch nach ihnen gesucht wurde?

Diese Ungereimtheit schmälert die Qualität aber keineswegs: die Spannung halt. Auf die richtige Spur bringt Maigret nämlich nicht die Fleißarbeit…