Fast eine deutsche Geschichte

Maigret durfte sich wirklich fragen, ob dieser Mord in Frankreich passiert. Einen Einfluss darauf, ob er den Fall bearbeiten musste, hätte es nicht gehabt. Schließlich befand sich der ermordete Otto Braun nun auf französischem Staatsgebiet und auch die Tatverdächtigen hatte er allesamt beieinander. Da konnte er keine Verantwortung, keine Ermittlungsarbeit abschieben – weder nach Belgien noch nach Deutschland.

In Paris dürften gewisse Leute aufgeregt gewesen sein, schließlich wurden in Jeumont – einem kleinen Städtchen zur belgischen Grenze – Staatsbürger unterschiedlichster Staaten festgehalten. Und – der Name besagt es schon – Otto Braun war ebenfalls kein Franzose. Querelen mit verschiedenen Botschaftern könnten die Folge sein.

Aber sollten die in Paris doch froh sein, denn schließlich war der Neffe Maigrets – Paul Vinchon – so clever gewesen und hatte seinen Onkel um Hilfe gebeten. Besser, der Fall lag in erfahrenen Händen als in denen eines Neulings. 

Die Umstände

Die Geschichte ist ein guter Beweis dafür, dass im Ausland aufmerksam registriert wurde, was sich in Deutschland abspielte. Entstanden ist die Story vor den Novemberprogromen des Jahres 1938. Aber es gab genug Indizien dafür, dass es für die Juden unter den Nationalsozialisten nicht besser werden würde. 

Die Deutschen jüdischen Glaubens waren Bürger zweiter Klasse geworden. Simenon illustriert das mit einer Bemerkung von Lena Leibach, einer Österreicherin, die meinte:

In Deutschland ist es Israeliten untersagt, einer Arierin den Hof zu machen ...

Die Geschichte entstand im Juli 1938, der sogenannte Anschluss Österreichs war ein paar Monate zuvor erfolgt. Die »Arierin« Leibach hatte diese Regeln aber offenbar schon verinnerlicht.

Der Hintergrund der Geschichte: Der Jude Otto Braun setzte sich ins Ausland ab und versuchte von seinem Vermögen zu retten, was zu retten war. Bei diesem Versuch wurde er ermordet.

Abgesehen vom Geschichtlichen, gibt es keine andere Story Simenons, in der so viele Deutsche auftauchen und die verschiedensten deutschen Städte auftauchen. Ich würde nicht soweit gehen, zu sagen, dass die Handlung in den genannten Städten spielt – es handelt sich mehr um Erwähnungen, Stadt-Statisten wenn man so will. Immerhin vier Großstädte haben es geschafft, erwähnt zu werden – was ein Rekord sein dürfte.

Der Zug

Der Zug startete in Berlin und hatte zwei Kurswagen aus Warschau. In der polnischen Hauptstadt war eine Passagierin zugestiegen, die aus Vilnius kam. In der deutschen Übersetzung wurde sie Madame Irvič genannt, im französischen Original nannte Simenon die Dame »Irvitch«. Sie war Jüdin und die Ehefrau eines Pelzgroßhändlers. Ihr Reisegefährte für die erste Etappe bis nach Berlin war ein Franzose namens Adolphe Bonvoisin, der als Angestellter eine Filiale in Lwow besucht hatte (hierzulande als Lemberg bekannt). 

In Berlin stiegen sowohl Otto Braun zu, sowie Thomas Hauke und die schon erwähnte Lena Leibach. Herr Braun war ein angesehener Bankier gewesen, die beiden anderen Genannten fischten in eher trüben Gewässern. Der Hamburger Hauke war zwar auch in Berlin zugestiegen, wechselte jedoch erst in Köln in das Abteil. In der Domstadt stieg auch der über jeden Verdacht erhabene Dr. Gellhorn hinzu.

Das war die Reisegruppe, mit der sich sowohl Maigrets Neffe auseinanderzusetzen hatte, nachdem er den Toten in dem Abteil entdeckt hatte.

Kurz und knackig

Interessant dürfte die Story sein, weil wir damit einen literarischen, belgisch-französischen Blick auf die Dinge bekommen, die sich in Deutschland abspielten. Die Jeumont-Angelegenheit gehört zu den Kurzgeschichten Simenons, die sich zwischendurch Lesen lässt. 

Der Plot ist interessant angelegt, allerdings hat man zum Ende das Gefühl, dass sich nicht nur Maigret verabschiedete und seinen Neffen den Rest der Arbeit erledigen ließ. Auch Simenon machte einen schlanken Fuß und beendete die Angelegenheit flott. Wie der Mord ablief, das wird dem Leser noch präsentiert. Den Rest des Komplotts darf er sich in seiner Fantasie erarbeiten.