Über die Story

Es kommt einem bekannt vor, wenn man erst einmal angefangen hat zu lesen. Aber man täte Simenon unrecht, wenn man sagen würde, da hat er sich doch gnadenlos bei sich selber bedient: Hatte er zu dem Zeitpunkt – »Der Untermieter« entstand 1933 – nicht, er hatte sich seiner Erinnerungen bedient.

Wenn man jedoch »Das ungesühnte Verbrechen« zuerst gelesen hat, kann man gar nicht anders, als die Parallelen zwischen Erzählungen zu entdecken. Beide spielen zu großen Teilen in Haushalten, die auch als Pension agieren. Der Unterschied: Während in dem Roman über das ungesühnte Verbrechen der Kern der Familie aus der Mutter und der Tochter besteht, ist die Familie im »Untermieter« etwas größer: Vater, Mutter und zwei Töchter. Die Atmosphäre in den beiden Haushalten ähnelt sich – es sind wahrscheinlich die gleichen Stimmungen, wie sie Simenon in seinem Elternhaus, welches zeitweise ebenfalls als Pension diente, wahrgenommen haben dürfte.

Aber nicht nur das ist ein Punkt, der uns in Erinnerungen schwelgen lässt: Zwei andere Aspekte lassen sich anführen. Das Bild, was Simenon von der Insel Ré zeichnet, ähnelt denen in »Eine »Premiere« auf der Insel Ré«. Die Facette der Geschichte der Unterschiede der höchsten Strafe zwischen Belgien und Frankreich (die Todesstrafe war damals in Belgien schon abgeschafft, in Frankreich dagegen nicht), wird von Simenon in der Maigret-Erzählung »Die Todesstrafe« thematisiert.

Wer ist Elie Nagéar? Ein Jude portugiesischer Herkunft, der einen großen Teil seiner Kindheit in der Türkei verbracht hatte. Sein Vater hatte sich ruiniert, aber die Familie stürzte nicht in den Abgrund. Der Vater war tot, aber die Mutter und Schwester führten das gleiche Leben wir vorher. Nur der Sohn brach aus diesem Raster aus. Er hatte sich auf die Reise gemacht, um in Brüssel Teppiche zu verkaufen. Nobel kam er an, mit großem Gepäck, großen Hoffnungen und einer Begleitung, die er auf der Fahrt nach Brüssel kennengelernt hatte und die aus Brüssel stammte: Sylvie Baron.

Aber er schleppte sich in der belgischen Hauptstadt nicht nur mit einer Erkältung und einer gewissen Niedergeschlagenheit herum, auch die Geldsorgen drückten ihn nieder. Das Teppichgeschäft schien nicht das zu bringen, was er sich erhofft hatte: eine Provision von 200.000 Francs.

Da kommt ihm seine Beobachtung recht, dass seinem Zimmernachbarn eine größere Summe Geld übergeben wurde, gerade recht. Elie konnte den Kerl sowieso nicht leiden. Da er wusste, dass sein Nachbar sich in der Nacht auf den Weg nach Paris machen würde, konnte er einen guten Plan austüfteln, wie er an das Geld käme.

Das Problem bei der Geschichte ist, dass es nicht nur schwerer Raub ist, wenn man von langer Hand plant, jemanden überfallartig Geld wegzunehmen und dabei sein Leben zu beenden. Wird man gefasst, kann man sich sicher sein, dass einem Niederträchtigkeit nachgewiesen wird, einen Vorwurf, den Richter und Geschworene überhaupt gar nicht gern hören. Elie ist das egal. Der junge Mann braucht Geld und das holt er sich.

Die beiden Männer treffen sich im Zug nach Paris wieder. Elie konnte es einrichten, dass sie beide ein Liegewagenabteil benutzten. Von Elie wurde er van der Chose genannt, vielleicht war der Name, den der Mann wirklich trug – van der Cruyssen –, für ihn nicht aussprechbar. Der Mann war überrascht, den alten, aber wenig geliebten Bekannten bei sich im Abteil wieder zu finden. Aber so ist es im Leben, die Zufälle tragen uns weiter oder beenden unser Leben. Sonderlich viele Zufälle sollte der Holländer nicht mehr erleben, denn kurz hinter der französischen Grenze setzte Elie dem Dasein von van der Cruyssen ein Ende. Die Tatwaffe, die er dabei wählte, war solide und nach ein paar Schlägen war der Mann tot.

Elie nahm das Geld und kehrte nach Belgien zurück. Dort wurde er von Sylvie erwartet, der er seine Tat gestand und die eine Idee hat, wo er unterkommen könnte. Ihre Mutter, berichtet sie, hätte noch ein Zimmer frei, in dem er gut Unterschlupf finden könnte. Madame Baron ist begeistert: Der neue Mieter, der so gewandt und charmant ist, wird von ihr gleich umsorgt und gehegt. Schließlich hatte er immer noch diese lästige Erkältung. Elie fühlte sich in diesem kleinbürgerlichen Haushalt geboren und »pudelwohl«.

Aber das Geschehene macht nicht vor diesen Mauern halt. Je größer der Schlamassel wird, heißt je weiter die Ermittlungen voranschreiten und sich den Ausländer fokussieren, desto mehr igelt sich Elie in dem Haus der Familie Baron ein. Warnungen von Sylvie, dass die Polizei ihm auf der Spur ist, beachtet er nicht. Vielleicht hat er das erste Mal im Leben ein zu Hause gefunden?

Kennt man einen, kennt man alle, könnte man ganz salopp formulieren. Denn das Ende, dass das Buch nehmen wird, ist von Anfang an klar. Da gibt es kein Drumherumreden, dazu ist Simenon viel zu sehr Moralist, als das er ein Verbrechen ungesühnt lassen würde. Damit wären wir auch schon fast wieder am Anfang, denn obwohl das andere Buch »Das ungesühnte Verbrechen« heißt, kann man davon ausgehen, dass es immer eine Sühne gibt.

Zumindest bei Simenon.