Über die Story

Besatzungszeit irgendwo in Europa, vermutlich während oder nach dem zweiten Weltkrieg. Mehr lässt sich wohl nicht sagen, Simenon lässt uns bewusst im Unklaren darüber, denn eigentlich könnte es jeden Treffen. Der Held, wenn man von einem Helden reden kann, trägt einen deutschen Namen. Die Besatzer, von denen die Rede in dem Buch ist, tragen keine Namen, lassen eine gewisse Willkür erkennen. Eine Straße, die in dem Buch genannt wird, trägt einen französischen Namen. Es geht uns nichts an, wo es spielt, wann es spielt, allein die Geschichte zählt. Und die ist grausig.

Frank Friedmaier hat erkannt, dass es keinen Sinn macht, zu arbeiten, denn mit dieser schuftet man sich nur kaputt und es bringt kaum etwas ein. Hinzu kommt, dass einen enorme Existenzsorgen plagen, denn man weiß nicht, ob man am nächsten Morgen noch etwas zu Essen oder Brennmaterial hat. Angenehmer ist es, sich abends in Bars herum zutreiben, edle Getränke zu sich zu nehmen und sein Geld mit undurchsichtigen und illegalen Geschäften zu verdienen. Das häusliche Vorbild, was gerne herangezogen wird, wenn man Erklärungen sucht, ist seine Mutter, die in ihrer Wohnung ein Bordell betreibt. So hat Friedmaier schon früh gesehen, wie das mit dem leichten Geldverdienen funktioniert. Es hat fast den Anschein, als prallt die gesellschaftliche Verachtung, die ihm, seiner Mutter und ihren Angestellten entgegengebracht wird, einfach ab. Wenn man Butter auf dem Brot hat und die Anderen nicht, lässt sich das abweisende Verhalten leichter ertragen.

Wer Simenon liest, der lernt ausgemachte Schurken kennen. Häufig entpuppt sich der vermeintliche gute oder normale Mensch als Grenzgänger: Warum nicht seinen Freund in der Kälte umkommen lassen, wenn man ihm seine Affäre nicht gönnt? (siehe »Das zweite Leben«) Warum nicht einen Koffer mit Geld aus dem Wasser fischen und ihn um jeden Preis behalten wollen, auch um den Preis von Menschenleben? (»Der Mann aus London«) Warum nicht ein Leben als Außenseiter? (»Weder ein noch aus«) An vielen von denen, die einem über den Weg laufen, mag man keine guten Seiten entdecken, zumindest ist es mir bei den Hauptfiguren von Der ältere Bruder so gegangen. Es war aber nicht so, dass ich dachte, der ist abgrundtief böse. Um einen solchen Wesenszug zu entdecken, der im Übrigen in der heutigen Kriminalliteratur ein- und ausgeht, im der Realität aber Gott sei Dank sehr selten zu finden ist, musste einem erst Frank Friedmaier in einem Simenon über den Weg rennen.

Der steht in einer sehr kalten Winternacht in der Straße und wartet. Er hat nur ein Ziel, jemanden umzubringen. Ein Nachbar geht vorbei und sieht ihn kurz, vermutlich nur, um zu denken, hey, da steht ja der Friedmaier, geht weiter. Dann kommt ein Ziel, dass sich lohnt; eine Herausforderung zugleich. Ein Unteroffizier der Besatzungstruppen. Dieser, es mag ein wenig trösten, war auch nicht das Edelste der Geschöpfe, vergnügte sich in den gleichen Bars wie Friedmaier und wusste die Mädchen der Besetzten zu schätzen. Als Offizier trug man Waffen und sein Mörder hatte es auf eine Waffe abgesehen. Nur das war es, was Friedmaier interessierte. Zu seinen Kumpels gehen, und sagen zu können, schaut her, ich habe die Waffe von einem der Soldaten, den ich niedergestochen habe. Ein dürftiger Grund.

Dieser Mord beschert dem jungen Mann ein Hochgefühl. Er fühlt sich jetzt richtig in die Gangsterwelt aufgenommen, fängt an zu Handeln zu dealen, das Leben und Glück der anderen Menschen spielt für Friedmaier immer weniger eine Rolle. Er schafft es, sich unangreifbar zu machen, besorgt sich Papiere, die ihn vor dem Zugriff der Besatzungstruppen schützen, ihm Türen öffnen.

Wichtig sind allein seine Freunde. Ausgerechnet die Tochter des Mannes, der sagen könnte, das Friedmaier der sein könnte, der den Unteroffizier umgebracht hat, ist es, die sein Herz gleichzeitig erwärmt und erkalten lässt. Sie entflammt in großer Liebe zu ihm, die von ihm anfangs erwidert wird, aber nur aus einem Grunde: er hat eine Eroberung gemacht, ihn aber bald langweilt, denn er weiß, dass er zum Ziel kommen kann. Das Höchste, die Liebe, verrät er als Gefälligkeit.

Von diesem letzten Verrat geht es direkt in den Abgrund, denn was Friedmaier nicht weiß: sein Schein mag ihm Türen öffnen und ihn schützen, aber nicht jeder der Besatzer fühlt sich an diesen Schein gebunden. Wenn es um die eigenen Interessen geht, wird solch eine Vollmacht plötzlich wertlos. Friedmaier in den Fängen der Besatzer, die sich für Angelegenheiten interessieren, die Friedmaier völlig uninteressant erscheinen, die er nicht beantworten mag.

Simenon schildert den Alltag des Gefangenen mit seiner ganzen Härte und Hoffnungslosigkeit. Morgens werden Gefangene abgeholt und in einem Schuppen erschossen. Man mag sagen: einfach so, denn eine Gerichtsversammlung gibt es nicht und Friedmaier weiß, dass auch dies sein Schicksal ist. Mit dem Tag, an dem man ihm abholte, hatte er das Spiel verloren, gab es keine Hoffnung mehr für ihn.

Hin und hergerissen frage ich mich, ob Friedmaier dieses Schicksal verdient hat. Abgesehen davon, dass ich die Todesstrafe für eine abscheuliche Strafe halt, gegen die man jederzeit angehen muss, und man in diesem Fall noch nicht einmal davon reden kann, dass sie verdient wäre oder nicht, da es nicht ein einzigen Hinweis darauf gibt, dass Friedmaier die Gelegenheit gegeben wurde, sich zu verteidigen; es hätte Friedmaier auch passieren können, dass er angefahren wird und in einem Graben landet, fern jeder Hilfe, wo man vielleicht sagen würde, so ist es halt, er war ein schlechter Mensch und hat es nicht verdient, dass ihm jemand zu Hilfe kommt. Vielleicht ist es mein Glaube an das Gute im Menschen (ja - ich halte es mit Mademoiselle Clément, die da sagte: »Es gibt sehr viel mehr ordentliche Leute auf der Welt, als man denkt. Ich verstehe nicht, wie man überall Schlechtes sehen kann.«), und ich glaube auch daran (fest sogar), dass jeder Mensch sich wandeln kann, genauso zum Guten wie zu Bösen. Das ist es, was mich daran zweifeln lässt, dass Frank Friedmaier sein Schicksal verdient hat.

Abgesehen von dem was man zurück ließ. Das Verhalten der Familie Holst nötigt einem den größten Respekt ab. Aber »Der Schnee war schmutzig« ist eine Täter-, keine Opfer-Geschichte, weshalb vieles in der Geschichte ungesagt bleibt.

Wer nach dem Lesen der Geschichte verstört zurückbleibt, reagiert völlig normal.