Über die Story

Wenn ich in die Vor-Non-Maigret-Fan-Zeit (was für ein Wort) zurückblicke, kann ich ziemlich genau sagen, wann ich welchen Non-Maigret gelesen habe: in den 80ern waren es »Die Witwe Couderc« und »Der Schnee war schmutzig«, zwei Romane, die mir sehr gut gefallen haben und Mitte der 90er waren es »Die Glocken von Bicêtre«. Dazwischen gab es einen Vorfall, der sich »Der Mann aus London« nannte. Angefangen zu lesen und irgendwie wollte sich der Zugang zu dem Buch nicht einstellen. Ich fand es düster und negativ, keine schöne Geschichte. Ich steckte, vielleicht war das auch der alleinige Grund, zu sehr in den Maigrets drin. Da ist die Geschichte aus Dieppe eine gute Abwechslung, wenn man sie mag.

Ich mochte nicht. Der Stapel mit Non-Maigrets, die ich noch nicht gelesen habe, wird immer kleiner. Wie wählt man aus einem solchen Bücherstapel das nächste Buch aus? Mein Kriterien als Webmaster sind recht klar: was wird als nächstes erscheinen, was könnte im Fernsehen oder Rundfunk kommen und man greift sich am Anfang (ich zumindest), die leichtverdaulicheren Bücher heraus. Da kann man schon mal danebengreifen, wie mir »Die letzten Tage eines armen Mannes« bewiesen habe, den ich - Stand November 2003 - auch immer noch nicht bewältigt habe.

Nun komme ich zu dem Buch, welches ich schon einmal angefangen hatte zu lesen, welches mich nicht angesprochen hat. Da ware negative Energien zwischen mir und dem Buch. Die galt es zu überwinden. Das Buch verschwand im Koffer und sollte als Lektüre bei der nächsten Dienstreise dienen…

... und es diente. Irgendwie passte es: ich saß in der Bahn und las über einen Bahner. Maloin saß Nacht für Nacht in seinem Stellwerkhäuschen, stellte hin und wieder ein paar Weichen, beobachtete das Nachtleben, das vom Ankommen und Abfahren von Zügen bestand, den Passagieren, die zu den Fähren oder zum Zug eilten, nachdem sie sich hatten vom Zoll durchleuchten lassen. Hin und wieder döste er ein. Der Job als Rangiermeister im Hafenbahnhof von Dieppe war wirklich nicht schlecht.

Der Job war es nicht, der Maloin an diesem Abend zusetzte. Vielleicht lag es am Nebel, der schon ein paar Tage über der Stadt hing und nicht verschwinden wollte? Ausgerechnet an diesem Abend, war er Zeuge eines Verbrechens. Er beobachtete, wie ein langer schlacksiger Mann, einen anderen Mann ins Wasser schubste (Details? Er schlug auf das Opfer ein, bis dieser ins Wasser fiel.) und machte sich dann davon. Maloin überlebt lange, was er tun soll. Dann steigt er herab und und geht zum Wasser. Er sieht, was er sehen möchte. Eine spiegelglatte Oberfläche. Das Opfer ist nicht zu sehen. Es ist, wie der Rangiermeister vermutet hatte, tot. Aber da war noch der Koffer…

Maloin entschließt sich, wenn er schon nichts mehr für das Opfer machen kann, zumindest den Koffer zu retten. Er steigt ins Wasser und findet nach kurzer Zeit auch den Koffer. Er nimmt das durchnässte Reiseutensil mit in seine Kabine und ist dann am Staunen. Eine so große Summe an Geld hat er noch nie auf einen Haufen gesehen. Was damit tun? Ein großes moralische Dilemma für Maloin: soll er es dem Mörder geben, der den Mann wahrscheinlich deswegen umgebracht hatte? Das konnte man wohl ausschließen, schließlich darf man Verbrecher nicht bestrafen. Zur Polizei gehen und gestehen, was man gesehen hat? Dies schien Maloin ziemlich riskant. Polizisten kommen schnell auf die merkwürdigsten Ideen und hinterfragen gern das Gehörte. Wie sollte Maloin den Geldkoffer in seinem Besitz erklären? Eine Option wäre, dass man den Geldkoffer mitzurückgibt, aber nein… Was sollte die Polizei damit? Da ist es doch besser, wenn jemand in Dieppe von dem Inhalt partizipiert: die Familie Maloin wäre dafür bestens geeignet!

Mit dem Ausgeben muss Maloin sehr vorsichtig sein: die Polizei hatte mittlerweile Wind bekommen. Das Hafenbecken wurde abgesucht und der Tote wurde gefunden. Das rief eine Menge Polizei auf den Plan. War der Tote so wichtig, dass sich sogar Polizeibeamte aus England einfanden? Die örtliche Presse berichtete sehr ausführlich über den Fall und so war Maloin bald darüber informiert, dass der Gesuchte Brown hieß und für einen Meisterdieb gehalten wurde. Aus welchen Gründen die Polizei weiß, dass Brown eine große Summe an Geld bei sich hatte, bleibt Maloin ein Rätsel (während der Leser von Simenon ausgeklärt wird). Die Beamten ziehen daraus den Schluss, dass Brown sich noch in der Nähe aufhält. Die ganze Stadt und deren Umgebung wird mit großem Aufgebot überwacht.

So hatte sich Maloin das Reichsein nicht vorgestellt. Nun hatte er Geld, konnte es aber nicht ausgeben; schlimmer noch, er konnte sich seines Lebens nicht sicher sein. Schließlich hatte Brown vielleicht gesehen, wie er in das Hafenbecken gesprungen ist oder konnte es sich denken, dass der Rangiermeister des Hafenbahnhofs von dem Geschehenen etwas mitbekommen hat. Wenn er so scharf auf das Geld war, was würde ihn daran hindern, auch Maloin umzubringen, um an sein Ziel zu kommen?

Das Erstaunliche an der Geschichte ist, dass es wenig Schnittpunkte zwischen den Ermittlern und dem Rangiermeister Maloin gibt. Maloin gibt sich erst in einem dramatischen Ende zu erkennen und fällt mit diesem Erkennen. Von dem Geld, dass er als sein Eigen betrachtete, hat er nur einen Nachmittag etwas gut, als er entgegen jeder Vernunft mit seiner Tochter in die Stadt geht, um dort »richtig« Geld auszugeben.

Es bleibt ein düsterer, dunkler Roman. Ich konnte mit dem mürrischen Maloin, eine sehr autoritäre Person, nicht warm werden. Einmal mehr haben wir etwas von Simenon gelernt: fremde Koffer können nicht glücklich machen. Maloin stürzte sich dadurch letztlich ins Unglück; Justin Calmar ging es in Der Zug aus Venedig nicht viel besser.