Über die Story

Der Zug ist abgefahren, denkt man sich so. Was soll den passieren? Im Leben von Dominique Salès nichts mehr, da ist man sich gewiss.

Fräulein ist so ein Begriff. Der Begriff ist aus der Mode gekommen, womit auch die Sprache ein Stückchen verarmt ist. Hat er früher einen Status beschrieben, wird er heute er zur Charakterisierung einer Person eingesetzt. Ein Fräulein ist meist ein wenig älter und nicht ganz von dieser Welt. (Noch so ein Begriff: tantchenhaft; selber keine Kinder habend und sich um jedes Kind kümmernd, was in der Nähe ist - eine Eigenschaft, die bei älteren Fräuleins häufiger zu finden ist.) Die Unterschiede der Fräulein-Entstehung sind heute sicher andere als vor vierzig Jahren, da habe ich keine Zweifel. Die Frauen leben heute ihr eigenes Leben, wollen eigenständig sein - brauchen keine Männer mehr. (Männer werden, unabhängig vom Beziehungsstatus, mit dem Alter komisch; den Begriff onkelchenhaft gibt es nicht, weil in der Natur nicht oder nur extrem selten anzutreffen ist.)

Auf Dominique Salès trifft er aber hundertprozentig zu: eine Frau, um die 40, die ihre große Liebe nicht geheiratet hatte. Für den Vater war sie immer da - als dieser starb, lebte sie von dessen Hinterlassenschaft. Das war sehr wenig. Die Wohnung, in der sie lebte, hatte sie zum Teil weitervermietet und so musste sie mit einem jungen Pärchen zusammenleben, welches frischverliebt war. Zum Leidwesen von Dominique Salès waren die Wende sehr dünn und sie konnte jedes Wort mitbekommen, welches gesprochen wurde.

Man kann sich nicht immer mit sich selbst beschäftigen, eigene Verwandte hatte sie nicht und so verlegte sie sich darauf, die Umgebung genau zu beobachten. Zum Beispiel die Familie Rouet, in deren Fenster sie hineinschauen konnte. Da gab es immer etwas interessantes zu entdecken. In der oberen Wohnung lebten die Eltern von Hubert Rouet - die Mutter eine dicke Frau, die sich kaum noch bewegen konnte, aber peinlich darauf bedacht war, zu wissen, was unter ihr passierte. Antoinette Rouet, die Frau von Hubert, passte nicht zu ihrem Mann - darin waren sich alle einig. Sie war eine »flotte« Frau, die mit ihrem Mann zu versauern drohte. Hubert war klein, unscheinbar und irgendwie langweilig. Hinzu kam, dass er gesundheitlich nicht auf der Höhe war und hin und wieder Anfälle bekam.

Drohte so ein Anfall, so musste er schnell seine Medizin bekommen. Dominique Salès beobachtete nun, wie Antoinette mitbekam, dass ihr Mann an einem solchen Anfall litt, aber nicht eingriff. Sie gab ihm seine Medizin nicht. Der Mann kämpfte um sein Leben, und seine Frau und Dominique schauten ihm dabei zu. Dominiques stille Schreie kamen bei der Ehefrau gegenüber nicht an. So wurden beide Zeugen seines Todes und Dominique Zeugin eines Verbrechens.

Antoinette begann mit einem neuen Leben: sie hatte offenbar schon einen Liebhaber, der sie abholte. Dominique konnte beobachten, dass dies auch der Mutter des Verstorbenen nicht verborgen geblieben ist. Durch die Fenster sah Dominique, dass es heftige Diskussionen gab: das Geld brachte der Ehemann in die Beziehung ein und die alte Dame machte klar, dass sie keinerlei Anlass sah, die Schwiegertochter mit ihrem verruchten Lebensstil zu alimentieren. Bei der Beobachtung dieses »Fernsehspiels« erfasste das Fräulein auch, dass die Mutter des Verstorbenen zwar nicht persönlich die Schwiegertochter überprüfen konnte, aber in Gestalt des Dienstmädchens ein verlässliches Auge auf die junge Frau hatte.

Sie schreibt einen Brief:

Die Phoenix Robelini rechts

Empfängerin war Antoinette Rouet und sie würde Bescheid wissen, wenn sie den Zettel las. Es war die Pflanze, in die Antoinette die Medizin gegossen hatte, die für ihren Mann bestimmt war. Ändern tat sich nichts, zumindest nicht für die junge Rouet gegenüber. Für Dominique dagegen schon: sie heftet sich auf die Spuren der jungen Witwe und möchte feststellen, was die Frau für ein Leben lebt. Man hat den Eindruck, dass sie Antoinette Rouet beneidet.

Der Leser wird bei diesem Roman durch die Welt der Dominique Salès geführt. Eine Einführung in ein Leben, dass schon mit vierzig als wenig geglückt gelten kann. Ein Mensch, der in seinem eigenen Saft schmort und darin versauert. Es war sicher kein Mord, den Dominique bei den Rouets beobachtet hat, er eine sehr anrüchige unterlassene Hilfeleistung, vielleicht Totschlag - für Dominique Salès war es aber ein großes Ereignis, ein Einschnitt in ihr Leben. Für Antoinette Rouet sicher auch, von Hubert Rouet einmal ganz zu schweigen, der im letzten Augenblick vielleicht erkannt hat, dass die anderen Leute, die immer gesagt haben, seine Frau würde nicht zu ihm passen, ganz und gar recht gehabt hatten. Traurig, dass dieser Todesfall im Nachbarhaus ein Höhepunkt im Leben von Dominique Salès sein wird.

Ich fand diesen Spaziergang (nein, es war kein Ritt) durch das Leben der Jungfer manchmal quälend, manchmal langatmig. Simenon beschreibt ein Leben, in dem nicht sehr viel passierte. Dieses Buch kann man dann lesen, wenn man in einem Sturm der Geschäftigkeit steckt und sich einen Moment der Ruhe gönnen will.