Über die Story

Manchmal wird von einer Abrechnung Simenons mit seiner Mutter geschrieben, was ich nicht unterschreiben würde. In Stammbaum kam die Mutter wesentlich schlechter weg, man mochte sie nicht wirklich – nachdem was Simenon in diesem Brief schreibt, wird das in dem früheren Roman erzeugte Bild etwas revidiert. Vielleicht, nur als Versuch einer Erklärung, ist der zum Zeitpunkt des Todes seiner Mutter auch schon fast siebzigjährige Simenon etwas gnädiger geworden.

Angefangen wurde der Brief am 18. April 1974 – etwa drei Jahre nach dem Tod seiner Mutter Henriette. Vieles kommt dem Simenon-Freund bekannt vor: entweder kennt er es aus Biographien, aus autobiographischen Schriften oder gar Romanen. In den Maigrets urteilt der Kommissar nicht: er will es sich nicht anmaßen, sondern verstehen. Simenon mag in den meisten seiner Bücher diesem Grundsatz seiner berühmtesten Figur gefolgt sein, was seine autobiographischen Schriften angeht, insbesondere die Texte über seiner Mutter, so finden sich eine Menge Urteile. Er hält ihr immer wieder vor (Eskin nennt es »Hadern«), dass sie ihren Mann und seinen Vater nicht geachtet hat (und das ist höchstwahrscheinlich nicht in dem Sinn gemeint, dass er als Mann geachtet wird, sondern als Mensch). Da die zweite Ehe nicht als glücklich zu bezeichnen war und als Vorbild für Die Katze dienen durfte, stellt Simenon die Behauptung auf, dass es seiner Mutter nicht um Liebe ging, sondern einzig und allein um die Sicherung ihres Lebensabends. So nahm sie es ihrem ersten Mann Désiré übel, dass er zum einen keine Lebensversicherung abgeschlossen hatte (oder besser noch, Beamter mit Pensionsansprüchen geworden ist) und zum anderen keine Lebensversicherungen verkaufte – das Genügsame des Simenons war nicht in ihrem Sinne. Diese Vorhaltungen gegenüber Désiré, die nahm der Sohn seiner Mutter übel und verurteilte sie bei sich jeder bietenden Gelegenheit.

Neben diesen Tönen sind aber auch versöhnlichere zu finden: zum Beispiel wenn er schreibt, dass seine Mutter darauf bedacht war, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Hilfe? Nein, die will sie nicht und hat sie immer abgelehnt. Dann schon erst recht nicht von ihrem Sohn. (Letzteres ist nicht ganz so positiv, aber Simenon nimmt es gelassen.)

Immer wieder geht Simenon zurück in die Kindheit und Jugend seiner Mutter: sie haben darüber wohl nie gesprochen. Der Grund dafür ist klar – die beiden haben keinen Faden zueinander gehabt. Vielleicht war es in der Familie auch nicht üblich, über das Vergangene zu reden. Dem Geschichtenerzähler Simenon ist damit aber etwas abgegangen und man merkt, dass er es aufrichtig bedauert, sich nicht mit seiner Mutter unterhalten zu haben.

In einigen Sätzen kehren auch Erinnerungen wieder, wie sie schon in Stammbaum verarbeitet wurden: seinen Ministranten- und seine Schulzeit. Seine Mutter lag in dem selben Hospital, in dem Georges Simenon als Ministrant gedient hat.

Sie finden den Brief in Sammelbänden mit Werken von Simenon bzw. gibt es ihn auch als Kleines Diogenes-Taschenbuch. Interessant für alle, die sich näher mit dem Leben von Simenon beschäftigen wollen.