Das Muttersöhnchen

Maigret hatte die Prostituierte aufgesucht, weil sie des Handtaschendiebstahls verdächtig war. Sie machte keine Anstalten zu kooperieren und als Maigret damit drohten, sie mit zum Revier zu nehmen, reagierte sie auf unerwartete Weise. Sie zog sich aus.

Es war nicht so, dass sie eine wahre Schönheit und Augenweide gewesen wäre. Die Freude Maigrets hielt sich in Grenzen. Nachdem er merkte, dass sich das Zuhalten und Zukneifen der Augen nicht half, holte er sich Verstärkung und gemeinsam mit zwei Kollegen wickelten sie die Frau in Decken ein und trugen sie »wie ein Teppich« die Treppe herunter, um sie dann zur Polizei zu bringen.

Was hatte Ernestine Jussiaume, der die Aktion nicht geholfen hat, damit erreicht? Sie blieb Maigret im Gedächtnis.

Ein Wiedersehen

Als ihm der Anmeldezettel von Ernestine Jussiaume gereicht wurde, fragte Maigret den Bürodiener vorsichtshalber, ob die Dame betrunken sei. Sicher ist sicher – er konnte sich gut erinnern, mit welchem Biest er es da zu tun hatte. Der Bürodiener verneinte und auf Nachfrage gab er Maigret zu verstehen, dass er nicht den Eindruck hätte, dass die Dame nervös wäre.

Sie begrüßte ihn mit den Worten: »Sind Sie mir immer noch böse?« Humor hatte sie also.

Ihr Anliegen indes war nicht so humorvoll, wie die Begrüßung. Sie erzählte Maigret, dass sie seit vielen Jahren mit einem Mann namens Alfred Jussiaume liiert. Dieser war in Polizeikreisen seit vielen Jahren unter dem Namen »Der traurige Alfred« bekannt und galt als ausgemachter Spezialist auf seinem Metier: das Knacken von Panzerschränken der Marke »Planchart«. Bei der Firma hatte er mal gearbeitet, so kannte er auch die Kunden der Firma. Das große Los war ihm bisher nicht vergönnt und auch diesmal hatte er großes Pech gehabt. Statt der großen Beute fand er eine Leiche vor und flüchtete, den Job nicht vollendend, aus dem Haus.

Der traurige Alfred rief noch kurz bei seiner Frau, um sein Missgeschick zu beichten und zu verkünden, dass er von der Bildfläche zu verschwinden. Mit Mord war nicht zu scherzen und er wusste, das er ganz schlechte Karten haben würde, wenn man ihn schnappen würde.

Nicht das übliche Vorgehen

Das übliche Muster für eine literarische Mord-Ermittlung sieht in etwa so aus:

  • eine Leiche wird gefunden,
  • der Tatort wird untersucht,
  • man macht sich auf die Suche nach dem Mörder und
  • wenn er ermittelt wird, macht man ihm den Prozess.

Manchmal wird ein Mord vorher angekündigt oder das zukünftige Opfer warnt die Polizei, dass versucht wird, es umzubringen (was die Polizei allerdings ignoriert, sonst wär’s keine Geschichte). Die Variante, bei der ein Einbrecher in ein Haus einsteigt und eine Leiche entdeckt, ist aber sehr unüblich.

Maigret steht vor dem Problem, dass er einer Vorbestraften, die ihm das Hören-Sagen eines anderen Vorbestraften erzählt, glauben soll. Wo denn das Verbrechen stattgefunden hat, will der Kommissar wissen. Zu dem Zeitpunkt weiß Ernestine nicht viel mehr, als das es in Neuilly gewesen war. Aber nicht wo und bei wem. Darüber hatte sich Alfred ihr gegenüber nicht ausgelassen.

Ein kurzer Anruf bei der Polizei in Neuilly bringt die Erkenntnis, dass kein Mord und kein Einbruch gemeldet worden waren.

Bevor man den Fall angeht, setzt sich Maigret mit einem Spezialisten aus dem Raubdezernat auseinander, der den traurigen Alfred und sein Vorgehen gut kennt. Inspektor Boissier bringt Maigret auf den aktuellen Stand und erläutert ihm das Vorgehen und die Marotten des Einbrechers. Innerhalb recht kurzer Zeit ermitteln sie, wer das Ziel von Alfred dargestellt haben könnte: der Zahnarzt Dr. Serre.

Ausbleibendes Alarmglocken-Klingeln

Maigret stattet mit Inspektor Boissier dem Zahnarzt einen Besuch ab. Empfangen werden sie von der Mutter des Arztes. Der Arzt würde einen Mittagsschlaf halten, das hätte ihm sein Arzt empfohlen, da er ein schwaches Herz habe. Sie gibt recht bereitwillig Auskunft darüber, wie es im Haushalt so zugeht: Ihr Sohn wäre verheiratet, seine Frau wäre aber auf Reise nach Amsterdam gegangen. Das wäre die zweite Ehe – die erste Frau wäre vor fünfzehn Jahren verstorben, an einem Herzleiden.

Als der Sohn nach seinem Schläfchen dazu kommt, ist er ganz und gar nicht erfreut. Rundrum streitet er ab, dass in das Haus eingebrochen worden wäre. Eine Leiche würde es auch nicht geben – das wüsste er wohl. Im Behandlungszimmer entdeckt Inspektor Boissier, dass eine Fensterscheibe frisch ausgetauscht worden war. Madame Serre erklärt den Polizisten, dass der Tage ein Gewitter gegeben hatte und sie vergessen hatten, das Fenster zu schließen. Es ging dabei zu Bruch und ihr Sohn, der handwerklich begabt war, hatte die Scheibe prompt getauscht.

Was nahmen die Polizisten von diesem Besuch mit: Dr. Serre war nicht gerade entgegenkommend und sympathisch; andererseits hatten seine Mutter und her auf alle Fragen plausible Erklärungen und warum sollte in Paar, welches begütert und angesehen war, die Polizei anlügen? Andererseits: Gab es nicht Merkwürdigkeiten? Die beiden Polizisten gingen in die nächste Bar und tranken erst mal ein Bier.

Fragen, die sich nicht gestellt werden

​Der allwissende Leser denkt sich: Wer hat denn einen Vorteil von dieser Geschichte? Der traurige Alfred scheint es nicht zu sein, der gewinnt durch einen solche Geschichte gar nichts – warum sollte er sie erfinden und weitererzählen? Dr. Serre würde vielmehr gewinnen, wenn man die Geschichte auf sich beruhen lassen würde. Egal ob etwas passiert wäre oder nicht. Ein nicht sehr vertrauenswürdiger Zeuge ist auf eine tote Frau während einer Straftat gefunden und eine Frau, die zu diesem Haushalt gehört, ist verreist. Wenn das nicht ein merkwürdiger Zufall ist? Sollte Maigret nicht erfahren genug sein und sich von den bürgerlichen Verhältnissen nicht blenden lassen, und sehen, dass es solche Zufälle nicht gibt?

Die Ermittlungen in diesem Fall verliefen ungeordnet, Maigrets Stimmungen schwankten: Mal lud er den Taxifahrer frohen Mutes in ein Bistro ein. Dann wieder war er von Zweifeln gefangen, ob das, was er tat, auch wirklich das Richtige war. Zudem war es heiß, die Hundstage machten allen zu schaffen.

Maigret weiß nicht, ob er Ernestine und Alfred glauben kann. Beide waren vorbestraft und doch hatten sie Erwartungen an ihn. Madame Serre, sehr redselig und kooperativ, gab ihm Erklärungen ohne Ende und schützte ihr Sohn, als ob er nicht auf sich selbst aufpassen könne. Schließlich der Sohn, der das ganze Gegenteil seiner Mutter war. Er kannte seine Rechte, ließ Maigret das wissen und schien die besseren Karten zu haben. Andererseits ließ er sich von seiner Mutter vorschreiben, was er zu tun und was er zu lassen hat. Was nur war die Achillesferse dieses Dr. Serre?

Entwirrung

Es ist trotzdem ein Vergnügen Maigret in diesem Fall zu folgen, wie er das Knäuel langsam entwirrt und zum wahren Kern der Geschichte vorstößt. Dabei läuft so manches Bierchen den Rachen des Kommissars herunter, hat sich Maigret so manche Stunde in innervierenden Verhören mit dem Zahnarzt zu messen und die Details tröpfeln nur herein. Aber hätte der Kommissar am Anfang gedacht, dass er die Bohnenstange als Komplizin für die Lösung des Falles heranziehen wird?

Das Buch ist auch für eine sehr schöne Madame-Maigret-Szene gut: Madame Maigret kommt nicht sehr oft in das Büro am Quai des Orfèvres, für sie ist das was wirklich besonderes. Der Kommissar hat aber gewisse Befürchtungen, weshalb er seiner Frau vorher diese Anweisung mit auf den Weg gibt:

»Ich bitte dich nur um eines: Fang nicht wieder damit an, mir die Ohren vollzureden, dass alles staubig ist und dass die Büros dringend ein Großreinemachen nötig haben!«

Dem Leser sei auf jeden Fall versprochen, dass es in dem Fall so manche Wendung gibt, die für Überraschungen sorgt und dass es ein Buch ist, dass man gern mehrmals lesen wird.