Winter in Paris

Es war bitterlich kalt. Die Temperaturen sollten in den Nächten auf -8 Grad Celsius sinken. Für ein Mann aus der Mittelklasse, der es gewohnt war, um zehn oder elf Uhr abends zu Bett zu gehen und es noch warm und kuschelig zu haben, selbst wenn er bei geöffneten Fenster schlief, dürfte es ein sehr ungünstiger Zeitpunkt sein, um in den Untergrund zu gehen.

Zwei Tage zuvor hatte man einen Mann im Pariser Bois de Boulogne aufgefunden, der erschossen worden war. Es handelte sich um den Arzt Ernst Borms, der den Ruf eines Lebemannes hatte und aus Wien stammte. Man hätte durchaus auf die Idee kommen können, warum der Mann umgebracht wurde – irgendein gehörnter Ehemann zum Beispiel.

Maigret setzt zu einer unchristlichen Zeit einen Ortstermin im Bois de Boulogne an, um zu schauen, wer sich für diese Vorstellung interessieren würde. Der Kommissar hatte sich einen kleinen Dieb geschnappt und ihn für das Versprechen einer Haft-Erleichterung oder -Ermäßigung als Darsteller eines Mörders engagiert. Er spielte seine Rolle sehr gut. Im Drehbuch des Kommissars stand aber auch, dass es in dem Schauspiel eine Person »X« geben müsse, die den Tatort aufsuchen würde, da sie zu neugierig sei, um nicht erfahren zu wollen, wer anstatt ihrer geschnappt worden war.

Zu diesem Zweck hatte der Kommissar seine Mitarbeiter in diversen Statistenrollen besetzt, die sich an die Fersen der Zuschauer zu heften hatten, so sie ein Zeichen von Maigret als Regisseur bekamen. Es war erstaunlich, dass sich zu der frühen Stunde doch einige Neugierige einfanden – darunter waren Amateur-Detektive, die solche Gelegenheiten immer wahr nahmen und Leute, die zufällig auf ihrem morgendlichen Spaziergang der Vorführung beiwohnten.

Janvier indes bekam das Exemplar, dass interessant zu sein schien. Der Verdächtige merkte sehr schnell, dass er verfolgt wurde und nahm es anfangs gelassen. Ließ sich in Restaurants nieder und aß in aller Ruhe. Später nahm er dann die Metro und fuhr kreuz und quer durch Paris. Als das nicht mehr half, ging er zu Fuß weiter – unterbrochen durch Aufenthalte in Restaurants, Bars und Cafés.

Maigret übernahm die Rolle des Verfolgers von Janvier und ließ sich nur hin und wieder von seinen Mitarbeitern ablösen. Hin und wieder musste er schließlich auch mal etwas ruhen und sich über den Stand der Ermittlungen erkundigen. Aber er nahm diese Verfolgung des Mannes irgendwann persönlich, denn er erkannte, dass er mit dem Verfolgten den Schlüssel zum Rätsel hatte; er war aber überzeugt, dass es sich bei dem Mann nicht um den Mörder handeln würde.

Das Bewegungsmuster des unbekannten Mannes ließ darauf schließen, dass er nur eines im Sinne hatte: Er wollte die Polizisten im Unklaren darüber lassen, wer er ist.

Maigret sitzt nicht nur vor den Hotelzimmern des Mannes und verbringt die Nächte in zugigen Fluren. Er beobachtet, wie sich das Erscheinungsbild des Mannes von Stunde zu Stunde ändert, wie sich das doch selbstbewusste Wesen des Mannes zu einem huschigen Nichts wird.

Der Mann hatte auf seiner Flucht alles beseitigt, was Rückschlüsse auf seine Person zuließ – so sehen wir als Leser zu, wie ein Mittelständler in Windeseile einen sozialen Abstieg erlebt. Es ist aber auch interessant anzusehen, dass Maigret hin- und hergerissen von seinem Jagdeifer ist: Da ist seine Aufgabe einen Mörder zu fangen. Andererseits ist da das Unbehagen, das Elend mitzuverursachen. Das macht ihn unleidlich für seine Umgebung.