Das frisch ausgelesene Kapitel ist zwölf Seiten lang. Gefühlt ist das die Durchschnittslänge eines Kapitels in diesem Buch. Dieses Kapitel hat es in jeder Hinsicht in sich: Das nichts normal ist, da Krieg ist und es sich um Simenon handelt, wurde schon in den letzten Kapiteln klar. Aber zu all den Wirren auf die der Schriftsteller keinen Einfluss hatte, kommen nun noch die, die er allein sich selbst zuzuschreiben hat.
In den ungemütlichen, dunklen Herbst- und Winter-Monaten bekommen wir hin und wieder Besuch. Zwei, drei Rehe kommen dann vorbei, machen es sich im hinteren Teil des Gartens bequem, knuspern an heruntergefallenem Obst und Tannenzweigen, bevor sie weiterziehen. Keine Ahnung warum das Reh im Juni plötzlich bei uns im Garten stand und am vertrockneten Rasen knabberte, wo es nebenan eine saftige Weide gibt.
Die Top 3 der unangenehmsten Gespräche, die ich führen musste: Auf Platz 3 ein Gespräch mit einem Kunden, der eine Entscheidung mir auferlegte, wohl wissend, dass es seine Entscheidung war und ich, zu allem Überfluss, nur eine Urlaubsvertretung war. Der zweite Platz gehört einer Konfrontation bei dem gleichen Kunden, bei der ich nur Zuhörer war (damit geht der Gruppensieg nach Heide). Platz 1 gehört dem Wehrkreiskommando Potsdam.
Die Katze heischt um Aufmerksamkeit, möchte den Kopf gekrault bekommen. Bei den lustigen Geräuschen, die sie dabei von sich gibt, eine Mischung aus Gurren und Rufen, fällt es ihr leicht, meine Aufmerksamkeit zu erhaschen. Weiter weg liegt der Kater, erschlagen vom Nichtstun und ich genieße, katergleich, den Nachmittag auf der Terrasse unter blauem Himmel und denke mir, ein Waldgrundstück hätten wir damals auch haben können.
Was kann es für ein größeres Glück geben, als in Frieden zu leben? Es ist interessant, dass Simenon in seinen Tagebuch-Aufzeichnungen, die unter dem Titel »Als ich alt war« erschienen, schrieb, dass er mit der Epoche, in der er lebte, recht zufrieden wäre. Das war immerhin eine Zeit, in der es zwei große Kriege gab, in der Millionen von Menschen umkamen und die Simenon bewusst und hautnah miterlebt hatte.
Mit dem ersten Kind kommt die große Aufregung. Nicht alles geht glatt. Simenon berichtet, dass Tigy nicht genug Milch hatte und nach ein paar Tagen »ausgetrocknet« war. Es fand sich eine Lösung und der Sohn sollte nicht darunter leiden. Der junge Vater war fürchterlich besorgt um sein Kind und geht sogar die aus Lüttich angereiste Großmutter an, sie solle ja vorsichtig mit dem Jungen sein. Gemeint ist dabei seine Schwiegermutter.
Das Lesen der Memoiren erfordert ein Lexikon in der Nähe: Simenon nennt Namen, die einen Klang haben, über die man trotzdem nichts weiß. Beispielsweise Edith Cavell. Nach ihr war das Krankenhaus in Brüssel benannt, in das Simenon seine Frau zur Niederkunft bringen wollte. Es ist nur ein Absatz, in der er auf die britisch-belgische Krankenschwester eingeht, aber das erzeugte Neugierde.
Der Titel soll immer einen Meilenstein darstellen. Bis hierhin bin ich schon gekommen. Es ist so, dass ich recht schnell lese, wenn mich ein Stoff interessiert. Bei diesem Buch ist es ein wenig anders: Es ist sehr interessant, keine Frage, aber ich kann es nicht einfach in einem Rutsch durchlesen. Auf jeder Seite konfrontiert Simenon einen mit interessanten oder skurrilen Details aus seinem Leben und Erleben. Das muss verarbeitet werden.
Es erscheint einem wie ein Widerspruch, dass die Ärmsten der Armen in Hotels absteigen, weil sie sich eine Wohnung nicht leisten können. Das wäre heute ein Ding der Unmöglichkeit. Das Konzept leuchtet aber ein: Kleine, nicht gepflegte Zimmer, die sich als Wohnung nicht eignen, an Bedürftige zu vermieten. Um denen dann das Kochen auf dem Zimmer zu verbieten. Gerade denen, die sich ein warmes Essen außerhalb nicht leisten können.
Ein wenig erleichtert bin ich schon, dass es sich leichter liest, als ich es befürchtet hatte. Einige Indizien deuten darauf hin, dass ich es früher schon einmal probiert habe. Aber diese Erinnerung kann auch trügen, schließlich haben Simenons Biographen das Gewässer »Intime Memoiren« abgefischt. So sind meine Erinnerungen vielleicht die, die aus den Biographien stammen und nicht aus dem Lesen von Simenons Buch direkt.
Der Beginn erinnert, obwohl er in Briefform an Marie-Jo geschrieben ist, mehr an einen Roman denn an einen autobiographischen Text. Das liegt daran, dass Simenon ihr Auffinden und die darauffolgenden Tage sehr nüchtern schildert. Der zweite Teil des Briefes entwickelt sich in eine andere Richtung. Spätestens mit dem Moment, in dem er schildert, wie ihm die Asche von Marie-Jo ausgehändigt wird. Da wird es intim, ich wollte mich wegducken.
Vor mehr als zehn Jahren bekam ich »Intime Memoiren« in einer signierten Fassung angeboten und ich hatte zugeschlagen. Es war eine Menge Geld, was wir dafür bezahlten – allerdings taten wir dabei noch ein gutes Werk. Also ging es in Ordnung. Mit dabei war auch noch ein Brief von Simenon. Wenn ich es also recht überdenke, war es nicht nur eine gute Tat sondern auch eine gute Investition. Jetzt ist wohl die Zeit gekommen, das Buch zu lesen.