Wiederentdeckung des Menschen und der Wirklichkeit


Nachdem das ZDF Mitte der sechziger Jahre die Maigret-Serie mit Rupert Davies als Kommissar ausgestrahlt hatte, kehrte der Kommissar im Zweiten in der Person von Jean Richard wieder. Horst-Jochen Gehrmann machte sich in der Publikation »Serien und Reihen im ZDF« darüber Gedanken, wie die Serie vom Zuschauer aufgenommen werden wird, da Erfahrungen gezeigt hatten, dass sich der Zuschauer erst mit einer Serienfigur anfreunden muss.

Die Reaktion der Zuschauer und Kritiker auf die erste Ausstrahlung der englischen Fernsehserie nach 52 Maigret-Romanen von Georges Simenon (Titelrolle: Rupert Davies) zeigte, kurz gesagt, folgende Entwicklung: Bei Anlaufen der Serie Enttäuschung beim Zuschauer und böse Kritiken. Bei Auslaufen der Serie wieder Enttäsuchung der Zuschauer und wieder böse Kritiken – diesmal, weil die Serie auslief. Es ist nicht auszuschließen, dass sich dieses Phänomen wiederholt, wenn das ZDF in den kommenden zwei Jahren die vom französischen Fernsehen gedrehte Version der zwanzig besten Maigret-Romane (Titelrolle: Jean Richard) zeigt.

Wie kommt es zu den wenig positiven Reaktionen bei Beginn einer Serie? Sind falsch gerichtete Erwartungen der Grund für die Enttäuschung der Zuschauer?

Obwohl es auch in Deutschland viele Millionen Leser der Simenon-Romane gibt, düfte man sich der hinter seinen Romanen sichtbar werdenden Philosophie, Arbeitsweise und Dramaturgie jedoch weniger bewusst sein.

Was will Simenon?

Der französische Originaltitel der Serie »Les Enquêtes du Commissair Maigret« (Die Ermittlungen des Kommissars Maigret) deutet bereits an, was Simenon, was diese Serie zeigen wollen. Obwohl Maigret von sich behauptet, keine Methode zu haben, nach der er seine Arbeit als Leiter der Mordkommission am Quai des Orfèvres tut, erleben die Zuschauer dennoch die persönlcihe Art und Weise, in der Maigret sich auf einen Mordfall einstellt und geradezu in ihn eintaucht, um der Eigengesetzlichkeit jeder »Tat« auch von innen auf die Spur zu kommen. Dieses Eintauchen in das Milieu, in die Denk- und Lebensweise der Menschen, die eine »Tat« begangen haben oder von ihr betroffen werden, dient zwar auch der Ermittlung des täters, hat jedoch einen tieferen Hintergrund – Simenons Interesse am Menschen: »Ich wollte leben, verstehen Sie. Nicht nur für mich, aus reiner Lebenslust, sondern weil ich mir darüber klar wurde, dass allein das, was man selbst erlebt hat, andern durch Literatur erlebbar gemacht werden kann.«

Wie drückt sich dieses Interesse an Menschen formal aus? Menschliches und Kriminelles offenbaren sich vor allem demjenigen, der die richtigen der Person und der Sache angemessenen Fragen stellt und der die Antworten der Befragten weiterverwenden kann, um tiefergehende Fragen zu stellen, bis sich die Aufklärung eines Personen- oder Sachverhalts ergibt.

Nicht die Verfolgungsjagd durch Paris, die Drohung mit Fäusten oder der Schusswaffe, nicht die Schilderung eines Handlungsablaufs führen zur Wahrheit eines Falles, sondern der analysierende Dialog, die geduldige, manchmal etwa ruppige »Hebammenkunst« des Fragers und Zuhörers Maigret.

Diese Konzentration der Serie auf Menschen, Gesichter, Fragen und Antworten fordert vom Zuschauer eine andere Art der Aufmerksamkeit als die gewohnten Krimiserien, die mehr mit Action und Spektakulärem aufwarten. Maigret wendet sich mehr an den Zuschauer, der auch bereit ist, zuzuhören und mitzudenken. Die Spannungsfrage könnte das Interesse des Zuschauers nicht 80 bis 90 MInuten lang tragen. Die Spannung entsteht bei Simenon eben auch aus der Authentizität der – natürlich fiktiven – Figuren, Konflikte und Handlungen.

Der Zuschauer, der Simenon/Maigret, das heißt seiner Wirklichkeitserforschung – zu folgen bereit ist, wird darin einen Ausgleich finden können zum eigenen Wirklichkeitsverlust, den er in der Anonymität seines Lebens täglich erleidet.

»Ich wäre gern Diagnostiker geworden«, haben Simenon wie auch Maigret einmal gesagt. Von allen Komplimenten großer Zeitgenossen ist ihm das von Professor Lerich das liebste: »Was mir an Ihren Bücher gefällt, lieber Simenon, ist, dass Ihre Figuren nicht nur ihr Romanleben führen, geistig und physisch, sondern auch eine Leber, Lungen, Herz und Muskeln haben…«

Diese Wiederentdeckung des Menschen und der Wirklichkeit auf die Krimiserie auf dem Bildschirm hat einen noch aktuelleren Aspekt. Sie kann und muss im Zusammenhang mit der Diskussion um die Wirkung von »Gewalt im Fernsehen« gesehen werden, Da der Streit um die beiden einander widersprechenden Thesen – die »zur Nachahmung reizende« oder »von der Nachahmung abschreckende« Wirkung von Gewaltdarstellungen – keineswegs geklärt ist, scheint es sinnvoll, mit Maigret eine Alternative zum allgemein üblich gewordenen Krimi vorzustellen, die nahezu ohne Brutalität auskommt.

Aus den Kritiken zu einzelnen Episoden lässt sich cum grano salis auch etwas über die Aufnahme der gesamten Serie in Frankreich entnehmen. Ein Beispiel aus Le Figaro, 3./4. Dezember 1977 zur Episode »Der Einzelgänger«:

»... ist es bemerkenswert gut gelungen, die berühmte Atmosphäre von Simenons Buch wiederzugeben durch bewusst banal gehaltene Äußerungen, eine bis ins kleinste Detail genaue Beobachtung der Charaktere, ein behutsam aufgebautes Psychogramm der Personen und dröhnenden Stimmen, sobald einer von ihnen mit seiner Meinung herausplatzt. Was wir hier erleben, sind Ausbrüche von Einzelgängern vor diesem Maigret, der immer nur das Allernötigste sagt, um den Strom der Enthüllungen nicht versiegen zu lassen. Das ist typisch Simenon, diese Verschlossenheit, dieses Unvermögen, sich anders mitzuteilen als durch unbeteiligt wirkende kurze Sätze. Der durch aufgestaute Emotionen wachsende innere Druck wird plötzlich so stark, dass er sich schließlich im Drama entlädt. Die Simenon-Fans werden natürlich auch diesmal wieder kritisieren, dass Jean Richard nicht dem Maigret ihrer Vorstellung entspreche, weil er nicht stattlich genug, nicht ›bedächtig‹ genug sei. Auf seinem Gesicht zeigen sich immer noch Spuren von Jovialität, die Maigret, ein aufmerksamer Beobachter und Psychologe, nicht hat. Ihm sind seine Sympathie oder Abneigung für oder gegen einen Menschen nie anzumerken, es sei denn durch den Anflug einer Geste oder eines Blicks. Maigret ist selbst ein Einzelgänger.«

Horst-Joachim Gehrmann in »Serien und Reihen im ZDF« (Mai 1979)