Simenon auf der Spur


Der folgende Text ist aus dem Heft »Fernsehspiel im ZDF« (Nummer 47 - 1984). In ihm geht Stanislav Barabáš dem Phänomen Simenon nach. Barabáš verfilmte zwei Simenon-Romane, diesen und »Die Komplizen«. Der gebürtige Tscheche verstarb 1994 im Alter von 70 Jahren.

Das muss man sich richtig vorstellen und einmal alle Gründe und Konsequenzen dieser Erscheinung nachprüfen: Von fast dreihundert Romanen des Georges Simenon - darunter auch die »Maigrets« - wurden bisher um die siebenhundert Film- und Fernsehfassungen gemacht in verschiedenen Weltsprachen und fast allen Kontinenten. Eine wahre simenonsche Epidemie. Zufall? Eher ein Kulturphänomen.

Ein persönliches Bekenntnis am Rande: Noch lange, bevor ich auf die Filmschule ging, schrieb ich einmal, damals Jurastudent, eine Filmrezension über einen französischen Film, der mich verblüfft hatte - es war während des Krieges, und es war in der Slowakei. Der Film hieß »Die Unbekannten in eigenem Hause«. Die Wirkung des Films auf mich war nachhaltig: Es war eine persönliche Ansprache. Der Name des Autors der Vorlage war mir entgangen. Der Film hatte eine ungewöhnliche, beängstigende Atmosphäre, die der damaligen Weltkatastrophe glich und sie zugleich widerrief. Die Sprache des Films war authentisch, und sie war voll von überraschenden psychologischen Beweisen zum Rätsel Mensch. Das Spiel des Hauptdarstellers - es war der große Raimu - war einmalig, war unvergesslich - kurz: Ich griff zur Schreibmaschine, schrieb die erste Filmrezension meines Lebens und tat damit den ersten Schritt in Richtung Film. Erst viele Jahre später erfuhr ich, dass der Autor der literarischen Vorlage für »Die Unbekannten in eigenem Hause« Georges Simenon hieß! Das war schon in der Zeit, als ich mich bei Simenon umsah, um bei ihm einen mir passenden Filmstoff zu finden. Seitdem wühle ich mit Vergnügen in diesem Reichtum von Prosa. Auch jetzt, nach den »Komplizen« und dem »Sonntag«, bin ich noch immer auf der Suche.

Wenn ich heute an die Anfangsphase der Arbeit am Drehbuch »Der Sonntag« zurückdenke und in alten Notizen blättere, komme ich mir selbst irgendwie komisch vor. Ich trat damals auf der Stelle und kam lange nicht weiter. Dabei war ich mit Werk und Gedankensystem von Simenon gut vertraut. Ich wusste auch eine Menge über ihn und von ihm. Ich war gut vorbereitet, die unmittelbaren Erfahrungen von der Arbeit an den »Komplizen« steckten mir noch in den Knochen, ich war auch ein gebranntes Kind. Trotzdem tappte ich hilflos wie ein Blinder, tastete mich mühsam voran, als hätte ich das erste Mal mit dem Werk eines mir völlig unbekanntes Autors zu tun. Was war passiert? Nun: Monsieur Simenon schlüpft diesmal in die Hauptfigur des Romans »Der Sonntag«, und zwar restlos mit allen Konsequenzen, was Denken und Handeln dieses bedeutungslosen Kochs Erwin betrifft, genauso, wie er vorher - in den »Komplizen« - in der Haut des Bauunternehmers Joseph Lamberts verschwand. Zwischen den beiden Hauptfiguren liegen aber Welten: Lambert, ein souveräner, stolzer und unnachgiebiger Mann, ein »Häuptling«; dagegen Erwin, der kleine Koch aus »Sonntag« - eine großartige Nebenfigur als Hauptfigur! Dieser Erwin ist ein labiler, unreifer Mann, ein von seiner Frau abhängiger Mensch, »ein kleiner Lump«, der stümperhaft versucht, eine heroische Tat zu vollbringen, wobei er kläglich scheitert.

Beide Figuren sind dabei zwei echte Söhne desselben Vaters Simenon. Nur er besitzt jene rare Fähigkeit, in seinen Personen restlos unterzugehen. Das ist vielleicht sogar der beste Gag des Meisters. Natürlich fördert solche totale Verwandlung eine ganz neue Optik, ein neues Ohr, andere Blicke, eine ganz andere Filmstruktur. Als ich das begriffen hatte, war ich Simenon für diese Verjüngungskur dankbar. Ich fing neu an.