Über die Story

Da steht doch gleich auf der ersten Seite, noch vor dem Vorwort, dass das alle in dem Werk erwähnen Personen und Ereignisse Erfindung seien und keinerlei Bezug zur Realität haben. Nichts ist weiter hergeholt, als diese Behauptung – Simenon scheut sich an keiner Ecke, sich unverschämt seiner eigenen Biographie zu bedienen.

Man darf sich schon fragen, warum der Vater denn nun Désiré heißt und warum der Stammhalter an einem 13. Februar des Jahres 1903 geboren wird, aber als Geburtsdatum den 12. eingetragen bekommt. Dann sind so deutliche Anleihen am eigenen Leben, das die Weichmalerei durch den Namen Roger Mamelin überhaupt nicht mehr wirkt.

Simenon hat dieses Buch angefangen zu schreiben, nachdem ihm ein Arzt die Diagnose stellte, dass er nur noch zwei Jahre zu leben hätte – damals war er noch keine vierzig Jahre alt, konnte die Diagnose auch nicht von der Hand weisen, da sein Vater ebenfalls früh verstarb. Mit diesem Buch wollte er etwas Bleibendes für seinen Sohn Marc hinterlassen. Der Arzt hat sich geirrt…

Man fängt an zu Lesen, erwartet die Lebensgeschichte des Georges Simenon, und wird durch die eigenen Erwartungen in die Irre geführt: es kommt alles ganz, ganz anders, als man sich das vorgestellt hat. Der kleine Roger ist ein lieber Fratz, der problemlos ist und seine Eltern, insbesondere die Mutter, vor keine allzu großen Herausforderungen stellt. Er wird verhätschelt und wird nach dem Bild seiner Mutter Elise geprägt. Jeder Ausbruch stürzt die Frau in tiefe Verzweiflung: so gibt es ein Ritual, bei der man sich als Kind bei seinen Eltern bedanken und für alle Fehler um Verzeihung bitten soll. Roger wird eingebläut, sich ja an dieses Zeremoniell zu halten – der Mutter liegt sehr viel daran. Was macht der Bursche: er bringt kein Wort heraus. Elise interessiert nicht, warum er es nicht gemacht hat – sie ist ob des Ereignisses so verzweifelt darüber, dass er diesen Vorfall noch zehn Jahre später vorgehalten bekommen wird, zusammen mit einer Ermahnung, dass er schon immer ein undankbarer Junge gewesen wäre. Genauso ergeht es ihr, wenn von außen Einflüsse kommen, die sie nicht im Griff hat – wie dem Tag, an dem der Bruder von Désiré in die Stadt kommt und dem Jungen einen roten Anzug kauft, der nun wirklich nicht die Farbe hat, auf die der Junge »geeicht« ist. (Zur näheren Erklärung: die Mutter hat den Jungen auf einen bestimmten Patron »festgelegt«, dem eine bestimmte Farbe gewidmet ist – diese Farbe ist damit auch die Farbe von Roger. Der Schutzpatron von Roger ist die Jungfrau Maria und deren Farbe ist blau.)

Sie vergisst nie, ihrem Mann deutlich zu machen, dass er für einen großen Teil der Mittelmäßigkeit der Familie verantwortlich ist. Désiré lebt nach dem Motto, es geht uns nicht schlecht, also haben wir keinen Grund zur Klage. Elise sieht das anders: hätte ihr Mann sich für Lebensversicherungen entschieden (und nicht für langweilige Feuerversicherungen), dann könnten sie ein gutes Drittel mehr an Einkommen haben. Dem Mann, der auf seine Ruhe aus ist, ist das ziemlich egal. Er freut sich, nach Hause zu kommen, seine Familie vorzufinden, ein bisschen mit Roger spielen zu können und dann die Abendzeitung im Sessel genießen zu können.

Ich weiß nicht, wie Sie reagieren würden, wenn Sie nach Hause kommen, und Ihr Lebenspartner hat beschlossen: »Wir ziehen um, morgen kommen die Packer, die Gegend ist hier nichts mehr für uns.« Einmal davon abgesehen, dass das deutsche Mietrecht hier einen gewissen Schutz bietet, würde ein Großteil sicher auf die Barrikaden gehen. Désiré nimmt es, wie es kommt.

Er zieht um und kann auch nur hilflos mit ansehen, wie seine Frau anfängt, sein Heim in eine Pension zu verwandeln. Würde er anfangen, über diesen Entschluss seiner Frau zu diskutieren, würde nichts herauskommen, schließlich war er es, der nicht den nötigen Weitblick hatte, um in die richtige, geldbringende Versicherungsbranche einzusteigen – nun muss man das Geld auf andere Weise beschaffen.

Es geht in dem Buch, und dass war für mich die Überraschung, weniger um den kleinen Roger (also Georges), sondern vielmehr um die Familie (in der auch die Verzweigungen, die Stränge nach Holland und Deutschland ausführlich erwähnt werden) und insbesondere um die Mutter. Zwei Drittel des Buches werden von Elise beherrscht – ihr Denken, ihr Handeln ihre Sorgen.

Interessant wird Roger erst, als er das zwölfte, dreizehnte Lebensjahr erreicht – wobei das Kontra zu ihm immer die Mutter bleibt. Der Wandel des jungen Burschen wird von Simenon ausführlichst beschrieben: aus dem Musterschüler wird ein Rabauke, der darauf ist, Frauen zu erobern und an Geld zu kommen. Das erste Motiv dürfte Elise, seiner Mutter sehr fremd sein, im zweiten merkt man, dass sie Seelenverwandte sind.

Noch etwas anderes macht das Buch für den Simenon-Kundigen mehr als lesenwert. Teile der Geschichte, Figuren ebenfalls, kennt man aus anderen Geschichten. Als kleines Beispiel kann hier der Deutschlehrer J.P.G. angeführt werden – ihn kennt man aus dem Roman »Der Ausbrecher«, nur dass er in diesem in La Rochelle agiert und uns nicht als Lehrer von Mamelin/Simenon eingeführt wird. Auch die Bekenntnisse, wie Roger einen »Kumpel« trifft, der ihn als Begleiter für die Freundin seiner Freundin engagieren will – ein Motiv, welches aus »Der verlorene Sohn« bekannt ist.

Das Buch ist angelegt, dass man glauben könnte, es würde Forsetzungen geben – schließlich kann man als Simenon-Leser davon ausgehen, dass der Mann viel zu erzählen hatte. Die erste Ausgabe des Buches enthielt laut Simenon auch den Vermerk »Ende des ersten Bandes«, da es Anfeindungen und Anzeigen gegeben hatte (womit Simenon seine Erfahrungen hatte), ließ er die Fortsetzungen bleiben. Er schreibt im Vorwort der mir vorliegenden Ausgabe: »Bei der Neuauflage von 1952 in einer neuen Aufmachung habe ich vorsichtigerweise und vielleicht etwas ironisch die beanstandeten Passagen weggelassen und sie durch unschuldige Punkte ersetzt.« und bemerkt weiterhin, dass Folgebände nicht herauskämen, denn: »... wie viele neue Verurteilungen zu empfindlich hohen Geldstrafen würde mir das bei den Hunderten von Nebenpersonen, die ich auftreten lassen müsste, einbringen? Ich wage nicht, daran zu denken.«.
So bleibt das, was wir haben.