Über die Story

Mir scheint, dass es eine gute Option ist, die Beziehung zu überprüfen, wenn man vom Partner »Brechmittel« genannt wird. Irgendwann kann da nicht stimmen. Nun ist das meine persönliche Meinung, und wenn ich mir das Verhältnis mancher Paare so anschaue, scheinen solche Formulierungen zum guten Ton zu gehören oder bringen das Gegenüber zumindest nicht aus dem Gleichgewicht. Sollte ich einmal als Brechmittel bezeichnet werden, so wünsche ich mir zweierlei: das ich aus dem Gleichgewicht gerate und mein Instinkt mir rät, meine Beziehung zum Gegenüber, welches noch nicht einmal meine Lebenspartnerin sein muss, zu überprüfen.

Steve und Nancy machen sich auf den Weg nach Maine, um ihre Kinder aus dem Feriencamp abzuholen. Es ist das Wochenende vor Labour Day (ein Feiertag in den USA, der am 1. Montag im September begangen wird). Das Radio, dass Steve hin und wieder einschaltet, gibt zweierlei Zahlen bekannt: wie viele Leute an diesem Wochenende unterwegs sein würden und wie viele Menschen ihr Leben an diesem verlängerten Wochenende auf den Straßen verlieren würden. Die Zahl kommt Steve sehr hoch vor und er fragt sich wohl, ob er zu den Überlebenden gehören wird. Dann kam in den Nachrichten noch die Meldung, dass ein Verbrecher ausgebrochen ist, der als sehr gefährlich gilt und höchstwahrscheinlich bewaffnet ist.

Steve hat die Fahrt schon vor dem Beginn ordentlich begossen. Das ist die Stelle, an der ich mal etwas weiter ausholen muss, um meiner Verwunderung Ausdruck zu verleihen. Wenn ein Wort, den Zustand von Steve während der Fahrt beschreibt, so ist es das Wort »besoffen« - was sich der Mann reinkippt, geht auf keine Kuhhaut. Mir scheint, er ist volltrunken unterwegs und wenn man den Roman liest, hat man das Gefühl, dass Steve etwas unverantwortlich agiert, aber nichts Verbotenes tut. Diese Trinkerei ist ein Grund, warum das Drama ihren Lauf nimmt. Steve, etwas über dreißig Jahre alt, sagt von sich, dass er kein starker Trinker sei. Warum er an diesem Tag unbedingt Trinken muss, bleibt sein Geheimnis. Der Drink vor der Fahrt genügt ihm nicht, er hält an einer Kneipe an der Fernstraße an und genehmigt sich noch einen ordentlichen Schluck, während Nancy im Auto sitzen bleibt. Die Fahrt geht weiter, die beiden streiten sich weiter. Bei der nächsten Gelegenheit fährt Steve wieder an die Seite. Nancy protestiert vehement: wenn er jetzt in die Kneipe ginge, würde sie ohne ihn weiterfahren.

Demonstrativ zieht Steve den Schlüssel und macht sich auf den Weg in die Bar. Nach dem Genuss der Alkoholika kehrt er zum Auto zurück und muss feststellen, dass sich seine Frau selbstständig gemacht hat. Seine Gedanken spielen verrückt, er glaubt, dass sie vielleicht mit den Bus weitergefahren ist und macht sich an die Verfolgung; vergessend, dass er sich schon vorher verfahren hatte (ein Eskalations-Faktor beim Streit) und er nicht die geringste Chance hatte, den Bus zu finden, wenn er schon nicht einmal mehr in der Lage war, den richtigen Weg zu finden.

Irgendwann erkennt Steve sein blödsinniges Unterfangen und macht an einer Kneipe halt. Dort gönnt er sich, wie soll es auch ander sein, noch ein Schlückchen. Schaden tut es nicht mehr. Als er zurückkommt zum Auto, sitzt ihn ihm nicht seine Frau, sondern der Ausbrecher aus dem Gefängnis, und fordert Steve auf, in Richtung Boston zu fahren. Die Mahnung, dass der Mann bewaffnet war, in den Ohren, beschließt Steve, dass es klüger ist, sich nicht in Gegenwehr zu versuchen. Stattdessen wählt er - bewusst oder unbewusst, das sei einmal dahingestellt - eine subtilere Variante: er beglückt den Ausbrecher mit seinen ganz eigenen Ansichten zu Frauen, nicht realisierend, dass die Ansichten eines enttäuschten und wütenden Betrunkenen in der Regel Dritte nicht interessieren. Der junge Ausbrecher, er zählte knapp über zwanzig Lenze, hatte zudem nicht allzu viel Erfahrungen mit Beziehungsknatsch. Das vom Ausbrecher immer wieder hingeworfenes »Fresse« fruchtete nicht.

Es folgt noch eine kleine Katastrophe: der Reifen platzt und Steve ist nicht mehr in der Lage, den Reifen zu wechseln. Man kann verstehen, dass der Ausbrecher wütend ist - das Risiko, geschnappt zu werden, steigt von Stunde zu Stunde, die er mit Steve verbringt.

Der wacht am nächsten Morgen verkatert auf, stellt erstaunt fest, dass er noch am Leben ist, sein Auto heruntergekommen aussieht und seine Brieftasche fehlt. Ach ja, und seine Frau ist weg. Jetzt, wo er einigermaßen nüchtern ist, erkennt er, dass er in einer ziemlich verfahrenen Situation ist. Sein erster Gedanke: Alkohol. Mit dem wenigen Geld was er hat, macht er sich auf den Weg zu einem Shop, um sich etwas Hochprozentiges zu kaufen. Das auf nüchternen Magen! Aber Steve ist der Meinung, dass ihn das auf den Damm bringt?

Danach begibt er sich in ein Restaurant, lässt sich etwas zum Frühstück machen und macht sich auf die Suche nach seiner Frau. Im Feriencamp seiner Kinder, ist er nicht angekommen, wie er kurze Zeit später von der Campmutter erfährt. Auch in den Hotels ist sie nicht angekommen, kurze Zeit später muss er erfahren, dass sie nicht einmal in einen Bus in Richtung des Camps eingestiegen ist. Die Sorgen Steves wachsen.

Da liest er in der Morgenzeitung, dass eine Frau aufgefunden wurde, die überfallen wurde. Hektische Telefonate, um herauszubekommen, was passiert ist und wie es seiner Frau geht. Die Sorge wächst von Minute zu Minute. Hinzu kommt, dass er ein defektes Auto hat und das Geld immer mehr zerrinnt.

Wenn auf der Rückseite meiner Ausgabe des Buches steht, dass sich die Reise zu einem Alptraum entwickelt, so kann ich das voll und ganz unterschreiben. Wer nun daraus schließt, dass das Buch ein typisches Simenonsches Ende hat, der wird überrascht sein. Aus der Krise wächst eine Kraft und ein Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Steve und Nancy, das dem Leser wie ein Licht erscheint und Mut macht. Wie die beiden die Situation bewältigen, vor der sie stehen, das lässt der Autor den Leser nicht wissen. Aber mir genügt auch schon eine positive Perspektive.

»Schlusslichter« ist ein gutes, spannendes Buch, welches auf drastische Art dazu anregt, über das Trinken, über das »Nur-mal-so«-Trinken und die »Ich-bin-eigentlich-kein«-Trinker nachzudenken. Es gibt Bücher, wie zum Beispiel Maigret und Monsieur Charles, in denen Simenon das Thema nicht famos bewältigt hat.