Über die Story

Neue Perspektiven sind immer gut. Einen guten Schriftsteller macht es auch nichts aus, aus einer ihm fremden Perspektive zu schreiben. Aber anfangen zu lesen und zu entdecken, das Simenon aus der Perspektive einer Frau schreibt, das erstaunte dann schon. Ich glaube sogar, dass es in Simenons Werk einmalig ist. Außer in »Manuela« hat er das sonst nie gemacht (man möge mich berichtigen, wenn ich etwas Falsches von mir gebe). Ist aber schön, dass man immer wieder überrascht wird.

Wer die Diogenes-Ausgabe, und das ist die einzige Ausgabe, die von diesem Buch bisher herauskam, in den Händen hält, wird etwas irritiert sein. Auf dem Cover lächelt einem eine junge, schöne Frau entgegen, verführerisch, fremdländisch. Wenn da Männerherzen weich werden, würde das jede Frau verstehen. Diese Frau könnte Manuela sein. Oder anders: wenn man das Buch liest, ist es gut möglich, dass man sich so Manuela vorstellen könnte. Geht man mit diesem Gedanken an das Buch heran, dann denkt man an Leuchtendes, Erotik, vielleicht auch Kraft – man denkt aber nicht an Alkoholismus, Familienstreitigkeiten und Depressionen. Das ist der Punkt, wo ich sagen muss: aufgewacht!, wir sind hier bei Simenon und der Originaltitel lautet ja auch nicht »Manuela« sondern »Novembre« und damit ist die Grundstimmung in dem Buch schon viel besser beschrieben.

Die Einzige, die ein wenig zu lachen hat, die ein wenig singt, ist Manuela. Die Spanierin macht den Le Cloanecs den Haushalt. Diese wohnen etwas außerhalb von Paris in einem Haus, welches die Erzählerin das Gladiolenhaus nennt. Glaubt man der Erzählerin, dann wohnt in dem Haus keiner der Familienmitglieder gern. Aber es ist ein Erbstück, was der Vater nicht gern verkaufen möchte.

Überhaupt der Vater. Er kommt nach Hause, setzt sich in das Wohnzimmer und list erst einmal Zeitung. Irgendwann wird Abendbrot aufgetragen, die Familie trifft sich und ist in einem bedrückenden, gemeinsamen Schweigen. Aber es finden sich nicht immer alle ein. Die Mutter fehlt ziemlich häufig. Die Geschichte beginnt am 9. November (daher der Originaltitel), und die Mutter macht eine ihrer Novenen durch – so nennt die Tochter diese Phasen, in der sich die Mutter hemmungslos betrinkt. Keiner kann damit um. Der Vater versinkt im Schweigen und zieht sich nach dem Abendessen zurück in sein Arbeitszimmer; der Sohn ist nur am Schimpfen und beleidigt seine Mutter, bezeichnet sie als Säuferin (womit er formal auch recht hat). Es gibt wenig Lichtblicke und der einzige für den Sohn ist Manuela, mit der er ein Verhältnis hat. Aber auch so etwas trübt sich, denn Simenon baut in dem Buch auf einem gewagten Szenario. Auch der Vater verliebt sich in die junge Frau und macht ihr Avancen. Das das nicht gut gehen kann, ist jeden klar und es braucht auch nicht lang, bis der Sohn von dem Verhältnis erfährt.

Seine Schwester, die Erzählerin, macht den Fehler und warnt den ihren Bruder Olivier. Der Student ist maßlos empört und rennt mit den übelsten Gedanken durch die Welt, lässt keine Gelegenheit aus, jetzt auch den Vater zu beleidigen und sich zu betrinken. Jede Warnung der Schwester wird ignoriert.

Er stellt ihr die Frage, was sie denn für eine moralische Instanz darstelle, wo sie doch ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann hat. Da fällt der jungen Frau, die als Laboratin arbeitet und ein Verhältnis mit ihrem Vorgesetzten hat, nicht viel ein. Was soll man darauf auch sagen? Immerhin kann man ihr nicht vorwerfen, dass sie ein egostisches Miststück ist, wie zum Beispiel in Corinne aus »Das Schicksal der Malous«, die nur ihren Eigennutz vor Augen hat. Laure ist zurückhaltend und fordert von ihrem Geliebten nicht viel. Sie weiß, dass sie nichts Lebensmittelpunkt ist.

Die große Krise im Haushalt bricht aus, als Manuela eines Tages fort ist. Der Vater ist maßlos enttäuscht und der Sohn verdächtigt den Vater, seine Geliebte aus dem Haus geschafft zu haben, um sie als seine Zweitfrau in irgendeiner Wohnung in Paris zu halten. Laure erkennt sofort, dass es so nicht sein kann. Manuela hat den ganzen Tag gesungen und war lebensfroh. Sie würde sich nie mit einem Mann einlassen, der das ganze Gegenteil von ihrem Wesen ist. Gegensätze mögen sich anziehen, sie halten es, wenn sie so konträr zueinander stehen, aber selten miteinander aus. Die junge Frau macht sich Gedanken um Laure, zumal sie auch nicht glaubt, das Manuela einfach gekündigt hat und von dannen gezogen ist.

Ganz davon abgesehen, dass die ganze Geschichte sehr konstruiert wirkt – wie übrigens auch »Die Beichte«, die dann aber doch vier Jahre jünger ist, hat sie in meinen Augen ein großen Schönheitsfehler: Simenon wiederholt sich. Es werden bestimmte Sachverhalte mehrmals im Buch geschildert. Eine sekundäre Information, wie zum Beispiel die Tatsache, dass der Vater seinem Sohn kein Moped kaufen wird, wird fast mit den gleichen Worten, fünfzig Seiten später nochmal wiederholt. Das ist mir mit mehreren Punkten aufgefallen. So wirkt es, als ob Simenon nicht ganz bei der Sache gewesen ist. Da stellt sich die Frage, wie das kommt? Man kann eines dem Buche zu Gute halten – die Schilderung der Mutter, diese Folgen des Alkoholismus gehen einem an die Niere. Wenn es darum geht, ist die Genauigkeit wieder da. Es geht um drei große Themen. Die Beziehung von Laure zu ihrem Vorgesetzten, welches auch in eine schwere Krise gerät (hat es eigentlich etwas zu sagen, dass Simenon Frauen gern durch Lastkraftwagen ums Leben kommen lässt – fand ich schon in »Doppelleben« keinen schönen Tod. Hier hat er sich auch schweren Gerätes bedient. Wenn man dagegen den recht fixen und schönen Tod des Monsieur Bouvet bedenkt (»Das Begräbnis des Monsieur Bouvet«), kann man schon ins Grübeln kommen.). Es geht um den Konflikt zwischen Vater und Sohn. Hauptthema ist aber Alkohol. Auch hier lassen sich Parallelen zu einer ganzen Anzahl von Romanen, gerade im Spätwerk des Schrifstellers, ziehen. Da wäre der schon angeführte Roman »Die Beichte«, wo die Mutter sehr dem Alkohol zusprach. In »Tante Jeanne« weiß sich die Witwe nicht anders zu helfen, als in den Alkohol zu fliehen, eine Flucht, die für sie nicht neu sind und im letzten Roman Simenons »Maigret und Monsieur Charles« ist die Frau des vermissten Mannes ebenfalls Alkoholikerin. In diesem Roman haben wir aber, meiner Meinung nach, die deutlichste Schilderung des Alkoholismus in der Familie, die man bei Simenon findet. Das macht den Roman interessant – vielleicht hätte sich Simenon mehr auf den November konzentrieren sollen als auf Manuela.