Über die Story

Nein, schrecklich sind die Kinder wirklich nicht! Warum dieser Titel gewählt wurde, ist mir ein Rätsel. Der Originaltitel – »Maigret in der Schule« – enthält mehr Körnchen Wahrheit, als der deutsche. Noch treffender wären allerdings Titel wie »Maigret und der Lehrer« oder »Maigret und die schrecklichen Dorfbewohner«. Nichts für ungut, mit dem Titel müssen wir wohl leben.

Das Wetter war wunderbar, sehr milde und ein blauer Himmel, von dem man träumt. Maigret erscheint wie jeden Tag gegen neun Uhr bei der Kriminalpolizei. Der Blick, den er in das Wartezimmer wirkt, streift einen Mann, an den der Kommissar keinen weiteren Gedanken verschwendet – er wirkt langweilig. Auch die Visitenkarte, die er auf dem Tisch vorfindet - ein Joseph Gastin (Lehrer) hat sich angemeldet – mag sein Interesse nicht zu wecken. Der Rapport beim Chef steht an, und bei diesem wird Maigret gebeten, sich einmal mit dem stellvertretenen Chef einer Bank zu unterhalten, der Unterschlagung in seinen Reihen vermutet. Auch eine stinklangweilige Sache, aber für Maigret reizvoll, weil er nicht in seinem Büro sitzen muss und die Gelegenheit bekommt, in ein Bistro einzukehren und ein Glas Pernod zu genießen.

Nach dem wunderbaren Spaziergang, dem sich eine kleine Einkehr in die Brasserie Dauphine anschloss, kehrte Maigret ins Büro zurück, wo ihn die Visitenkarte auf dem Tisch erwartete. Er ließ den Mann hereinrufen:

»Sie sind bereits im Bilde?«
»Worüber im Bilde?«
Der Mann schien überrascht, vielleicht auch aus dem Konzept gebracht, enttäuscht.
»Ich glaube, Sie wüssten es schon. Als ich gestern abend Saint-André verließ, kam bereits ein Reporter… Ich bin mit dem Nachtzug gefahren und gleich hergekommen.«

Maigret wusste von nichts. Keiner hatte ihm von einem Lehrer namens Gastin erzählt, niemand von einem außergewöhnlichen Ereignis, dass sich in Saint-André-sur-Mer (in der Nähe von La Rochelle) ereignet hätte.

»Da unten denken sie jetzt natürlich, dass ich ausgerissen bin«, stieß er nervös hervor und lächelte bitter. »Aber wenn ich wirklich schuldig wäre und mich hätte verkrümeln wollen, so säße ich jetzt wohl nicht hier bei Ihnen – meinen Sie nicht auch?«
»Bevor ich nichts Näheres weiß, kann ich Ihnen diese Frage schwerlich beantworten«, brummte Maigret. »Was wird Ihnen denn zur Last gelegt?«
»Léonie Birard getötet zu haben.«

Léonie Birard – die Dorfhexe von Saint-André-sur-Mer. Sie war jedem im Dorf verhasst und ein jeder hatte ein Motiv sie umzubringen. Früher war sie die Postfrau gewesen, aber mit der Beförderungspflicht hatte sie es nicht so genau genommen und das Wort Briefgeheimnis war ihr fremd. Sie kannte jede einzelne Leiche, die in den Kellern ihrer Nachbarn lag. Das wäre wahrscheinlich auch nicht weiter schlimm gewesen, denn sie hätte das übrige am Dorftelefon mitbekommen, verhasst war sie, weil sie sich zur Angewohnheit gemacht hat, die Leuten, die an ihrem Fenster vorbeigingen, an ihre Keller-Leichen zu erinnern. (Ihr eigener, ziemlich plötzlich daherkommender Tod - verursacht durch einen Karabiner, wie ihn jedes Kind auf dem Lande hat – dürfte sie doch ziemlich überrascht haben.)

Warum hielten die Dorfbewohner Gastin für den Täter? Zum einen weil es ziemlich bequem war: es ist immer unangenehm, wenn einer der Einheimischen Unsinn gebaut hatte. Der Lehrer war aber einer aus Paris, wenn der im Gefängnis saß, hatte das die Dorfgemeinschaft nicht zu berühren. Hinzu kommt, dass die Dorfbewohner alles und jeden übers Ohr zu hauen pflegen: besonders die in Paris. Wo es Geld zu holen gab, dass man brauchte, aber nicht verdiente, die Dorfbewohner holten es sich. Die alte Birard hatte die Sünden und Vergehen den Leuten nur hinterhergebrüllt. Das war zwar unangenehm, aber jeder wusste, wie er es zu nehmen hatte. Mit dem Lehrer war das anders: er stellte die Bescheinigungen aus und ließ sich bei Lügen nicht erweichen, seine Unterschrift auf die Formulare zu setzen. Das schlimmste überhaupt war aber, dass er seine Schüler zu regelmäßigem Schulbesuch und Höflichkeit anhielt. Er war der ideale Täter.

Unglückseligerweise wurde der Verdacht nicht nur durch die mangelnde Sympathie der Dorfbewohner für ihn getragen, sondern auch durch die Aussage eines Schüler. Dieser – übrigens Klassenbester – hatte ausgesagt, dass er den Lehrer hat aus dem Schuppen kommen sehen, was der Lehrer der Gendarmerie verschwiegen hatte und energisch bestritt.

Maigret faszinierte weniger der Fall und das Elend des Lehrers, sondern vielmehr der Geruch des Meeres, der Geschmack von Weißwein und frischer Muscheln. Der Direktor gab ihm die Genehmigung, Gastin zu begleiten und ein bisschen Aufklärung zu betreiben. Am Bahnhof wartete die Gendarmerie. Der Lehrer wurde in ihre Obhut genommen, wie man die Verhaftung nannte.

Im Dorf hat sich Maigret mit den Dorfbewohnern rumzuschlagen, die zwar wussten, das der Pariser ein kluger Kopf war, aber sie hatten ja schließlich mehr Pariser übers Ohr gehauen, als der kluge Kopf sich vorstellen konnte. Da ist der Wirt, der sich geehrt fühlt, dass er einen so hohen Gast begrüßen darf, aber nichts sagen will, da seine Kundschaft überwiegend aus Einheimischen besteht. Schwer zu schaffen macht Maigret Théo, der Dorfhäuptling – auch wenn er es offiziell nicht ist, bestimmt er die Dorfgeschicke -, von dem alle sagen, er wäre ein Taugenichts, der schon vormittags anfängt zu trinken. Er will den Schuss zwar gehört, aber nichts gesehen haben. Die Frau des Lehrers mag nur jammern, und der Sohn des Lehrers ist verbockt und sagt nichts. Wie die Erwachsenen im Dorf pflegen auch die Schüler Gastins nur bedingt die Wahrheit zu sagen.

Muscheln gab es aufgrund toten Wassers nicht. Macht aber nichts, denn »Maigret und die schrecklichen Kinder« ist eine der Erzählungen, die man nicht aus der Hand legen mag. Da kann man Maigrets Leid verschmerzen.