Über die Story

Sie kennen diese Erzählungen, bevorzugt aus dem englischen Raum kommend, in der man nicht nur textliche Analysen durchführen muss, um vor dem Ende des Buches auf die Spur des Mörders zu kommen, sondern auch die Grafiken im Buch auszuwerten hat? Simenon hat fast nie zu diesem Mittel gegriffen. In der Erzählung, die hier beschrieben wird, aber schon, und das nicht nur einmal, sondern mehrere Male, immer die gleiche Situation beschreibend. Auf der linken Seite eine Straße, auf der rechten Seite eine Eisenbahnlinie. Dazwischen jedes Mal anders verlaufende Linien, die die Bewegung der Agierenden darstellen soll. Ein Unikum in der Maigret-Welt.

Damit aber nicht genug! Maigret in Amerika, das hatten wir schon, die mühsame Umstellung auf außerfranzösische Verhältnisse wurden schon in mehreren Erzählungen geschildert. Aber gab es eine Erzählung, in der Maigret nur Beobachter war, es keinen Zeitpunkt gibt, an dem er aktiv eingreift? Nein.

Ich denke, alle Maigret-Erzählungen sind sehr solide, man langweilt sich bei den (aller)wenigsten. Diese ist aber nicht nur spannend geschrieben, ich halte sie für eine der besten Maigret-Erzählungen.

»He! Sie!«
Maigret blickte sich um, wie in der Schule, um zu sehen, wer gemeint war.
»Ja, Sie da hinten…«
Der abgemagerte Greis mit dem gewaltigen weißen Schnurrbart, eine Erscheinung, die lebendig aus der Bibel erstanden schien, streckte einen zitternden Arm aus. Auf wen? Maigret schaute seine Nachbarn, seine Nachbarin an. Schließlich merkte er betroffen, dass sich alle ihm zugewandt hatten, selbst der Coroner sowie der Sergeant der Air Force, der verhört wurde, und der Attorney, die Geschworenen, die Sheriffs.
»Ich?« fragte er und machte Anstalten, sie zu erheben, so erstaunt war er, dass man ihn brauchte.
Doch all diese Gesichter lächelten, als wüssten alle Anwesenden außer ihm Bescheid.
»Ja«, sagte der Greis, der aussah wie Clemenceau. »Wollen Sie bitte sofort Ihre Pfeife ausmachen!«

Dieser einleitende Satz macht klar, wo Maigret ist – in einem Gerichtssaal. Er wohnt der Untersuchung eines Todesfalls bei, bei dem festgestellt werden soll, ob es nun ein Unfall war oder Mord.

Kurze Zeit hegt Maigret einen Groll auf den Alten, mit der Zeit merkt er aber, dass dieser verbiesterte Mann das Gegenteil von dem ist, für den er ihn hält: der Mann hat seinen Spaß daran, ist der Klassenclown im Gerichtssaal und wird mit der Zeit zum Verbündeten Maigrets.

Verbündet? Nun ja, im geistigen Sinne, denn Maigret hat nichts weiter zu tun, als dem Fall hörend zu folgen. Keine Ermittlungen, kein Dirigieren von Inspektoren, keine Verhöre von Verdächtigen, keine Brote aus der Brasserie, auch kein Bier. In den Pausen, die der Gast aus Frankreich, als unvermeidbares Übel hinnahm, gab es Cola aus Automaten. Aber nicht nur das ist für Maigret neu: er ist für seine Verhältnisse untypisch gekleidet:

Bisher war es ihm nie passiert, dass er ohne Jacke einen Gerichtssaal betreten hatte, und diese Frage der Kleidung war für ihn zu einem Problem geworden. Kaum hatte er eine bestimmte Linie in Virginia überschritten, da wurde ihm klar, dass er nicht länger seine Tage im Jackett und mit steifem Kragen verbringen konnte.
Aber in sein Leben lang hatte er Hosenträger getragen. Seine in Frankreich geschneiderte Hose reichte ihm bis zur halben Höhe der Brust.

Die Verdächtigen wurden von einem Untersuchungsrichter – Coroner genannt – verhört, und durften sich bei den Aussagen zuhören. Maigret hatte den Verdacht, dass sie so ihre Aussagen aufeinander abstimmen könnten, war aber überrascht, als er in den tagelangen Verhören des Coroners feststellen musste, dass dies nicht der Fall war.

Noch mehr irritierte ihn aber, dass sich sogar die Aussagen der Sheriffs und der Polizei-Sachverständigen untereinander widersprachen. So etwas hätte es in Frankreich nicht gegeben. Aber was war passiert:

An dieser Eisenbahnlinie wurde Bessy Mitchell gefunden, von einem Zug überfahren. Sie war des Nachts in Begleitung von fünf Armeeangehörigen in Richtung Mexiko gefahren, hatte dann aber die Truppe dazu bewegt, wieder umzukehren, da sie keine Lust hatte. Es kam zu Spannungen zwischen ihr und Sergeant Ward, ihrem Geliebten, und Sergeant Mullins, dem Möchtegern-Geliebten.

Bessy Mitchell war zum Zeitpunkt ihres Todes noch nicht volljährig, aber schon einmal verheiratet, einmal geschieden und man konnte sie getrost als eine Art Prostituierte betrachten. Sie hatte sich in Ward verliebt, er hatte ihr – selber noch verheiratet – die Ehe in Aussicht gestellt. An diesem Abend, an dem nur einer in der Truppe nüchtern war, soll sie je nach Aussage, mal mit Mullins in der Wüste gewesen sein, mal mit Ward, der Tenor der Gespräche war aber immer ein angespannter.

Umgebracht haben will sie keiner. Die Geschworenen haben darüber zu richten, ob auf Grund der verschiedensten Aussagen, die sie hören, eine Mordanklage gegen jemanden erhoben wird und das ist keine leichte Aufgabe.