Über die Story

Dieses Buch hat natürlich seine Bedeutung – es ist der letzte Non-Maigret, den Simenon geschrieben hat. Danach kamen nur noch ein Maigret (»Maigret und Monsieur Charles«), seine Diktate und »Intime Memoiren«. So liest man das Buch mit besonderer Spannung und hat ... nein, falsch, man hat keine Erwartungshaltung. Es ist bekannt, dass Simenon zum Ende hin immer schwächer geworden ist. Man kann darüber streiten, welches das letzte wirklich gute Buch gewesen ist. Ich würde sagen, es entstand 1966: »Die Katze« ist auf alle Fälle ein herausragendes Buch und auch »Der Tod des Auguste Mature« ist sehr lesenswert. Aber danach? Man liest es noch aus Interesse, denn es man will das Gesamtwerk erfassen. Für einen Anfänger haben Titel, wie »Es gibt noch Haselnusssträucher« und »Die Beichte« nichts – man könnte fast sagen, die Bücher haben eine Tendenz zur Belanglosigkeit. Bei den Maigrets – seien wir ehrlich – ist es ähnlich. 1967 gab es »Maigret in Kur«, der hatte noch seine Reize. Danach sah es schon nicht mehr so toll aus, vielleicht könnte man noch »Maigret und die verrückte Witwe« dazuzählen. Aber das war es doch, oder?

»Doppelleben« hat seine Reize: es knüpft wieder an bekannte Motive an. In einem Absatz zusammengefasst: Ein Mann bekommt die Nachricht, dass seine Frau, die er über alles geliebt hat, gestorben ist. Sie wurde an einem Ort xyz überfahren. Der Mann ist jetzt allein und steht ohne seinen Lebensmittelpunkt da. Der berufliche Erfolg kann diesen Verlust nicht aufwiegen. Dann stellt er fest, dass das Gewesene von Seiten seiner Frau aus Fassade gewesen ist und seine Frau, wie drückt es der Text auf dem Buch aus, »stirbt ein zweites Mal«. Ein großes Lob, schöner und treffender kann man es nicht formulieren.

Diese Enttäuschung, das Überraschende kommt einem bekannt vor. Stand nicht schon Alain Poitaud vor einem großen Rätsel, was das Leben seiner Frau anging, die plötzlich Gefängnis saß (Das Gefängnis). Ähnliche Überraschungen erlebte auch Felix Allard in Der Mann mit dem kleinen Hund – und nun, im letzten Non-Maigret-Roman war es Georges Célerin, den es erwischte.

Die Nachricht wurde ihm auf Arbeit überbracht. Er wurde von einem Polizisten gebeten, mit ins Krankenhaus zu kommen. Im ersten Augenblick ist da noch die Hoffnung, dass es nur ein kleiner Unfall war, aber der Polizist ist nicht sehr sensibel, und teil Célerin mit, dass es sich um eine Identifizierung handeln würde. Ein Lastwagen war es gewesen und Annette hatte nicht die geringste Chance, zu überleben. Sie starb in der Rue Washington – das wäre ein Grund gewesen, stutzig zu werden, denn in der Gegend um den Champs-Elysées hatte Annette nicht zu suchen, sie war Sozialarbeiterin und ihre Klientel befand sich üblicherweise ganz woanders. Aber Georges Célerin nahm es hin und identifizierte seine Frau.

Die Kinder sind natürlich geschockt, haben aber ihre eigenen Probleme. Sie gehen über den Tod der Mutter mit erstaunlicher Leichtigkeit hinweg. Der Sohn bereitete sich auf das Abitur vor, seine Tochter, etwas jünger, hatte es nicht so mit dem Lernen und war mehr damit beschäftigt, sich mit ihren Freundinnen zu beschäftigen. Da muss man doch aufhorchen, solch ein Verhalten von Kindern ist nicht normal und man kann es nicht als Schutzreaktion abtun. War Célerins Frau wirklich mütterlich und familiär?

Erst nach und nach – wir haben es wieder einmal mit einem Mann zu tun, der sein Leben Revue passieren lässt – erahnt Georges Célerin, dass er nicht mit einer Frau zusammengelebt hat, sondern neben einer Frau nebenher. Sie haben sich benommen wie Mann und Frau, aber Liebe, und das entdeckt der Mann ziemlich spät, war es nur von seiner Seite aus gewesen. An einer Vielzahl von Beispielen wird ihm das bewusst. Der Schmerz wird immer größer, und nicht wie seine Umgebung gehofft hat, immer kleiner.

Wie heißt es so schön, wenn man denkt, dass es nicht mehr schlimmer kommen könnte und sich vielleicht schon ein Hoffnungsschimmer am Horizont abzeichnet, dann holt der Herr im Himmel den großen Hammer heraus, um einen endgültig zu zerstören. Was umso verstörender ist, als Célerin ein wirklich guter Mensch ist: ein guter Ehemann, ein guter Vater und ein guter Handwerker und Arbeitgeber.

Der letzte Non-Maigret von Simenon, wie man ihn im klassischen Sinne versteht: Ein Buch, dessen Handlung im März angesiedelt ist und eine frühlingshafte Atmosphäre haben sollte, aber nichts da!: »Doppelleben« ist eine November-Geschichte, wie so viele von Simenon.