Über die Story

Gemeinhin wird immer gesagt, dass der Krieg bei Simenon eine nicht allzu große Rolle spielt. Aber es gibt ein paar Romane und Erzählungen, in denen der Krieg thematisiert wird. Aus der Erinnerung heraus: der erste Weltkrieg spielte in »Stammbaum« und, ich glaube, in »Die Verbrechen meiner Freunde« eine Rolle; der zweite Weltkrieg Erzählung »Mit vollen Händen«, in »Der Zug« und in diesem Roman.

Simenon bedient sich in diesem Roman eines bei ihm sehr bekannten Musters. Fremde dringen in eine vertraute Umgebung ein. Taucht man als Einzelner in der Fremde ein, versucht man sich anzupassen; erscheint man in einer größeren Gruppe, so bleibt man unter sich, auch auf das Risiko hin, dass man es sich mit den Gastgebern verdirbt. Dieses Verhalten kann man nicht nur bei der Eingliederung von fremden Bevölkerungsgruppen in die eigene Kultur betrachten (sagen wir mal die Türken erster und zweiter Generation in Deutschland), sondern auch bei Parties. Kommt eine größere Gruppe zu einer Party, so ist es nicht unwahrscheinlich, dass diese unter sich bleiben wird. Kommt eine extreme Situation hinzu, dann wird dieser Einigelungseffekt noch verstärkt.

Die deutschen Truppen haben Belgien überfallen. Einen Grund für diesen Überfall gab es nicht. Zumindest kann ich mich nicht erinnern, dass die Belgier angefangen hätten zu schießen oder es gewagt hätten, Deutschland irgendwie zu provozieren. Hitler brauchte keinen Grund, um über die Benelux-Länder herzufallen, wie er auch keinen Grund mehr brauchte, um sich Frankreich einzuverleiben. Das mit dem Grund hat er nach Polen aufgegeben. Wirklich nachgefragt hatte auch keiner. Die Fischer um Omer Petermans kamen von ihrem Fang noch zeitig nach Ostende zürück, um die Familie einzusammeln und das Wertvollste auf die Schiffe zu verfrachten. Dann machten sie sich auf die große Fahrt. Sie schipperten an der französischen Küste entlang und landeten schließlich in der Nähe von La Rochelle.

Sie waren hier nicht willkommen. Im Gegenteil, man betrachtete sie mit großem Misstrauen, denn die Flamen machten keinerlei Anstalten, sich den einheimischen Autoritäten zu beugen. Sie lagen in einem Hafenbecken, hatten keine Lust mit den Behörden zu kommunizieren und lehnten jede Hilfe ab. Die Franzosen hatten das Gefühl, dass mit den Fremden nicht gut Kirschen essen war. Eigentlich hätte es anders herum sein müssen. Als Gastgeber hätten die Franzosen den Flamen ihren Willen aufzwingen können. Die Flamen lehnten jedes Ansinnen mit den Worten »Nein, danke« ab.

Irgendwie schaffte es man doch, die Flamen von ihren Booten zu holen. Sie wurden in ein Dorf gebracht, das ziemlich weit von ihren Schiffen entfernt lag (was den Flamen natürlich überhaupt gar nicht passte). Nachdem sich der Unmut darüber etwas gelegt hat, machten sie sich daran, den Alltag zu regeln. Ihren Alltag, versteht sich. Die mitgebrachten »Schätze«, Möbel und Geschirr, wurde von den Schiffen in den Ort verbracht. Die Dorfbewohner waren sehr irritiert. Sie hatten sich auf Flüchtlinge eingestellt, denen sie das Wenige, was sie in den schlechten Tagen hatten, teilen wollte. Dann stellt sich heraus, dass es den Flüchtlinge besser ging als ihnen selbst. Verständlicherweise macht sich in einer solchen Situation Neid breit, es kommt zu kleineren Reibereien zwischen den Dorfbewohnern und den Hinzugezogenen. Kaum einer hat Treibstoff für sein Auto, nur die Flüchtlinge haben nicht nur nach kurzer Zeit ein Auto, nein, sie fahren damit auch noch jeden Tag herum.

Omer Peterman ist nicht gewillt, seine Tage untätig in dem Dorf zu verbringen. Täglich macht sich eine Gruppe von Fischern auf, um die Boote in Schuss zu halten. Der Clan-Chef will mehr. Schließlich sind sie Fischer und nicht Werftarbeiter. Sich über die Befehle hinwegsetzen, mochte er nicht. Die Zeiten waren ernst und er konnte ahnen, was passieren würde, wenn sie unerlaubt auslaufen würde. So macht er sich auf den Weg durch die Instanzen. An seiner Seite eine Dorfbewohnerin, die mit einem Wörterbuch in der Hand gut in der Lage war, ihm zu seinem Willen zu verhelfen. Omaer Peterman kannte nicht viele Worte, er verstand es aber sehr gut, in kürzester Zeit seinem Gegenüber beizubringen, wie er die Sache sieht und wie er sich eine Lösung vorstellt. Erstaunlicherweise – und dieses wohl für alle außer dem Fischer-Clan-Chef selbst – bekam er die Erlaubnis, Fisch zu fangen.

Fortan fuhren die Fischer hinaus. Kamen sie zurück, gaben sie einen Teil ab. Mal bei den anderen belgischen Flüchtlingen in La Rochelle, mal bei den Dorfbewohnern, von denen sie nicht geliebt wurden, aber zumindest akzeptiert. So zeichnet Simenon ein widersprüchliches Bild von Peterman: hier der willensstarke Mann, der um jeden Preis seine Ziele durchsetzen möchte, auf der anderen Seite bekommt man einen Menschen zu sehen, der eine soziale Ader hat. Ich glaube nicht, das Petermann einen beachtlichen Anteil an den Fängen aus schlechtem Gewissen abgibt, so etwas wie einen Ablasshandel mit anderen Flüchtlinge und Dorfbewohner betreibt.

Für die Dorfbewohner sieht es so aus, als ob der Clan eine Einheit wäre; im Clan selber gibt es eine ganz klare Ordnung. Petermann und seine Frau stehen an der Spitze, danach kommt die Nachkommen. Auf einer ganz anderen Stufe stehen die Angehörigen der Schiffer, die auf den Schiffen beschäftigt werden. Gewiss behandelt man sich höflich, aber die Unterschiede werden schnell deutlich gemacht. Beispielsweise bei der Auswahl der Zimmer und der Zuteilung der Arbeit.

Die Spannungen verstärken sich: der Krieg überrollt Belgien und der belgische König kapituliert (was die Franzosen überhaupt nicht verstehen können und es den Flamen anlasten), die Deutschen marschieren kurze Zeit später in Frankreich ein und nehmen auch La Rochelle ein. Peterman hat es mit neuen Herren zu tun und die deutsche Sprache beherrscht er genauso wenig wie die französische. Das Problem, das er nicht ausfahren darf, lässt sich verhältnismäßig schnell lösen. Gravierender sind die Probleme auf der See: dort sind diverse Minen zum Schutz des Hafens versteckt und es kommt immer häufiger vor, dass Peterman bei der Rückkehr schlechte Nachrichten zu überbringen hat. Die Hinterbliebenen fragen sich, warum Peterman die Männer immer wieder herausfahren lässt, wenn es so gefährlich ist.

Peterman ist eine Vater-Figur, die nicht den einzelnen im Auge hat, sondern die ganze Gruppe. Einzelne Verluste, so schwer sie zu verkraften sind, müssen ertragen werden, um das große Ziel zu erreichen. Als klassische Führungsfigur trägt Omer Peterman die Last selbst, frisst die anfallenden Probleme in sich hinein, äußert sich nicht zu seinen Zielen. So hat er zudem noch die Wut derer zu ertragen, die sein Handeln nicht verstehen. So eine Situation ist schwer genug, wenn man in der Heimat weilt. Ist man auf der Flucht, weit vom Gewohnten entfernt, scheint mir so ein Zustand schwer erträglich.