Über die Story

Wenn wir ehrlich wären, würden wir schon bei dem ersten Absatz des Buches zusammenzucken: da sitzt Dave Galloway in seinem Sessel und wartet auf den Sohn. Er macht sich schon ein paar Sorgen, aber das weiß der Leser noch gar nicht, denn Simenon fährt mit einem schweren Geschütz auf. Hätte Dave die Stunden anders erlebt, wenn er gewusst hätte, was auf ihn zukommt? Die große Frage und da das, was auf ihn zukommen wird, von Simenon schon als Katastrophe zwischen den Zeilen angedeutet wird, sagt man sich sogleich: vielleicht, vielleicht ja auch nicht. Denn mit den Katastrophen ist es ja nun mal so, dass sie meist ziemlich überraschend kommen. Also wird schon wieder auf den ersten Seiten klar: keine Geschichte, die Lebensfreude transportieren wird.

Schuld – fällt mir noch ein. Wenn wir die Non-Maigret-Romane einmal beiseite lassen, und man wird mit einem Verbrechen konfrontiert, so bricht die Katastrophe nicht über die Opfer und deren Angehörigen herein, sondern meist über die Seite des Täters oder über ganz Unbeteiligte. (Etwas komplizierter liegt es, das gebe ich zu, wenn der Täter in der Familie der Opfer zu suchen ist, wie es zum Beispiel in »Das Unheil« geschieht.)

Dave Galloway hat den Samstag-Abend wie immer bestritten: er kaufte beim Fleischer saftige Steaks ein, die er gemeinsam mit seinem Sohn am nächsten Tag verspeisen wollte – ein Ritual des Sonntags. Irgendwann machte er sich auf, um seinen Freund Musak zu besuchen, mit dem er den Samstagabend bestritt. Sie spielten und wechselten gelegentlich ein Wort. Nicht Großes, wenn man so will, aber eine Freundschaft, die schon über Jahre hielt. Später fällt Dave auf, dass Musak ihn nie besuchen kam und immer verabschiedeten sie sich mit den Worten: »Bis Samstag«, obwohl sie sich unter der Woche regelmäßig sahen. Der Ort war nicht so groß, als das man sich nicht beim Einkaufen oder beim Gang auf die Post über den Weg lief. Es war mehr die Regel, umso komischer erschien diese Floskel von Musak.

Dave bestritt seinen Lebensunterhalt als Uhrmacher. Seit einer halben Ewigkeit wohnte er mit seinem Sohn in Everton. Die Frau hatte die Beiden verlassen, als Ben – der Sohn – ein halbes Jahr alt war. Der Uhrmacher hatte das Kind großgezogen, hatte es geprägt und sollte bald feststellen, dass er seinen Sohn trotzdem nicht kannte.

So kam er an diesem Abend nach Hause und sein Sohn war nicht da. Der Sechszehnjährige sollte spätestens um elf Uhr zurück sein, bisher war es nur zweimal passiert, das er diese Zeit verpasst hatte. Beide Male hatte Dave auf Ben gewartet und der Sohn ist mit soetwas wie einem schlechten Gewissen in die gemeinsame Wohnung geschlichen. Zumindest hatte es Dave aus dem Gesicht so lesen wollen.

Er sitzt, wartet und irgendwann gibt es einen Mordslärm im Treppenhaus und er schaut heraus, als das Gepoltere seine Tür erreicht hat. Die Nachbarn. Der Mann ist betrunken und wird von seiner Frau gestützt. Wahrscheinlich ist das der Augenblick, wo Dave die Augen und die Ohren geöffnet werden. Denn die Nachbarin teilt ihm mit, dass Dave das Weite gesucht hat. Gemeinsam mit ihrer Tochter. Bens Vater versucht sich, nicht allzu überrascht zu geben. Erschüttert stellt er fest, dass er von der Beziehung gar nichts wusste.

Das Auto war verschwunden. Sein Auto. Der Uhrmacher benutzte es für Fahrten innerhalb der Stadt und konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass das Auto eine größere Strecke überstehen könnte. Er sollte recht behalten. Am nächsten Morgen stehen vor seiner Tür zwei Polizisten und befragen ihn. Man hätte sein Auto gefunden, teilt man ihm mit und als Dave bekennt, dass er das wüsste, fragt man ihn, warum er das nicht gemeldet hätte. Nun, Diebstahl in dem Sinne wäre es nicht, lautete die ungefähre Antwort, denn er wüsste ja, wer das Auto gefahren hat: sein Sohn. Die Polizisten scheinen wirklich interessiert; verfrachten ihn in ihr Auto und fahren den Uhrmacher zu ihren Vorgesetzten.

Der, ein Mann mit viel Verständnis, bringt Dave bei, dass man das Auto gefunden hätte und nicht weit davon entfernt eine Leiche. Ben und seine Freundin wären die Tatverdächtigen und die Fahndung lief schon auf Hochtouren.

Was über Dave hereinbricht, würde ich als Hölle empfinden. Erst einmal die Polizisten, die durch die Wohnung trampeln, um Hinweise zu finden, wohin sich die beiden Jugendlichen aufgemacht haben; dann die Journalisten: sie wollen ihre Story und sie bekommen sie. Auch hier gibt ein Polizist, wie schon in »Bellas Tod« den Tipp, lieber den Journalisten alles zu geben, als sich gegen sie zu wehren. Man würde sich keinen Gefallen damit tun. Dave tut, wie ihm geheißen.

Danach: Leere. Was hat der Sohn da getan? Was hat man falsch gemacht? Warum hat man von dieser Entwicklung nichts bekommen? Das eigene Fleisch und Blut? Die allgemeine Neugier und Geilheit auf Sensationen sorgt dafür, dass die Menschen an dem Haus vorbeischlendern, einfach um mal zu schauen. »Dort hat ein Mörder gelebt.« oder »Mike ist mit ihm in eine Klasse gegangen« oder, mit einem verängstigten Lächeln, »Meine Uhr ist noch in dem Haus.« Man hat plötzlich ein Zeichen auf der Stirn, mit dem man Leben muss: der Vater des Mörders. Schwerwiegender noch: des jungen Mörders. Mit 16 jemanden umzubringen, da gehört schon etwas Kaltblütigkeit dazu.

Der Vater sitzt zu Haus und fragt sich: wo kommt diese Kaltblütigkeit her. Ich als Leser stehe da und denke: der Junge ist doch kein Monster. Nicht so, wie ihn der Vater in seinen Gedanken schildert, da kann der Junge doch kein Ungeheuer sein. Es gab Simenons, da war das anders, da hatten die Figuren Tendenzen von Monstern, von Ungeheuern oder einfach nur von unsympathischen Kriechern, um auf eine niedrigere Ebene zu gehen, die strafrechtlich nicht belangt werden kann. Hier war es aber ganz anders: Ben schien nett und höflich zu sein. Ganz der Schwiegersohn-Typ, auch wenn er sehr ruhig war.

Da hat sich der Uhrmacher getäuscht. Atemlos liest man, wie es dem Mann ergeht, wie er Unterstützung von Musak erhält, die er so nicht erwarten konnte; der sich im Angesicht des Unglücks für seinen Freund auch seelisch öffnet und einfach nur da ist und von sich erzählt. Wie der Mann, der eigentlich nur auf seine Ruhe aus war, anfängt zu kämpfen – für seinen Sohn. Das ist einer der Romane, von denen ich mir wünsche, dass sie Einstiegsromane für Simenon-Neulinge sind. Mit der Geschichte kann man die Leser zu Simenon locken.