Über die Story

Stellen Sie sich einen kleinen unauffälligen Mann vor. Nicht schön, der Bauch ist schon deutlich sichtbar, die Haare fallen aus und im großen und ganzen macht er keinen gesunden Eindruck. Er scheut sich nicht, im Bademantel zur Haustür zu gehen, um den Hund herauszulassen und so lang zu warten, bis der Hund zurückkommt.

Nun stellen Sie sich doch nochmal den Hund vor: ein gelehriges Tierchen, der genau weiß, wann er Aufmerksamkeit fordern darf und wann nicht. Allerdings nicht intelligent genug, um zu erkennen, dass das Herrchen nicht in der Stimmung ist, Bällchen zu werfen oder zu verstecken. Dieses Tier, vermutet sein Herrchen, muss aus einem Zirkus kommen, denn es beherrscht beachtliche Kunststücke. Dem Hund würde es sicher nicht gefallen, zu wissen, dass es nur eine Verlegenheitslösung war, denn Goldfische mochten bei dem Mann mit dem kleinen Hund nicht gedeihen. Er war es irgendwann leid, sie aus dem kleinen Aquarium herauszufischen. Jeder, der einmal einen einzigen Fisch besessen hat, weiß wie deprimierend das ist (ich spreche von einem Fisch, nur einem einzigen im Aquarium. Allerdings ist es ähnlich überraschend, wenn man feststellt, dass der gekaufte Fisch ein trächtiges Weibchen war und man plötzliche eine stattliche Anzahl von Fischen besitzt.)

Dieser Mann fängt an Tagebuch zu schreiben. Von einem Tag auf den anderen. Gestern noch war er mit dem festen Vorsatz durch die Straßen spaziert, seinem Leben ein Ende zu bereiten und schon am Tag darauf entschließt er sich, sein Leben mit Hilfe eines Tagebuches auf zurollen. Was hat den Mann - der Felix Allard heißt - bewogen, weiterzuleben? Er besuchte das Viertel Montmartre und dort noch einmal die Kirche Sacre-Cœr, schon damals ein Platz, der weniger der Ruhe diente als vielmehr der Ergötzung der Touristenseele. (Ja ehrlich - Zeit für Empörung: wir waren da gewesen. Die Touristen werden wie bei IKEA durch die Kirche geschleust. Überall Schilder, man solle nicht fotografieren. Was machen die Leute - ich muss es nicht sagen. Ist fast noch schlimmer als das, was im Louvre abläuft - aber darüber will ich mich gar nicht erst auslassen.) Für den Mann empfindet ähnlich und betrachtet es bei Abschied. Da begegnet ihm beim Abschied ein Pärchen: er hat das, was man einen Wasserkopf nennt und geht an Krücken, ihr geht es auch nicht viel besser. Trotzdem haben sie den Berg erklommen - und nicht die Seilbahn genommen, die es gibt oder haben sich mit einem Bus heraufkutschieren lassen (so wie wir das gemacht haben…). Dabei war Zweisamkeit zu spüren, die in Allard etwas freisetzte.

Er setzt seinem Leben kein Ende, sondern geht nach Hause und lebt sein Leben weiter. Nein, falsch, ganz so ist es nicht. Allard fängt an Tagebuch zu führen. Beginn ist der 13. November. Der Mann fängt an, von seinem Leben zu erzählen.

Es gab schon einen, der sich hingesetzt hatte und anfing Tagebuch zu schreiben. Er hieß Malempin und schrieb, während sein Sohn an einer schweren Krankheit litt und er ihm beistand, sein Leben auf. Aber »Der Wucherer« kommt an dieses Buch bei weitem nicht ran. Die Jahre haben in der Beziehung Qualität gebracht. Obwohl das Herangehen ein Ähnliches ist, erst nach und nach gibt der Tagebuchschreiber sein Geheimnis Preis, verfolgt man den Mann mit dem kleine Hund mit viel größerem Interesse. Dabei ist Felix Allard keineswegs ein sympathischer Typ - wenn ich die Wahl zwischen ihm und Maigret hätte, wäre Allard nicht meine Wahl. Nun, das ist schon ein wenig parteiisch, das gebe ich wohl zu und höchstwahrscheinlich ist das, was Felix Allard aus seinem Leben könnte, wesentlich interessanter als das, was Maigret aus seinem Leben erzählen könnte (wohlgemerkt, aus dem Leben Maigrets und nicht dem anderer).

Felix Allard erzählt sehr zögerlich. So kommt ziemlich bald heraus, dass er in einer Buchhandlung arbeitet. Madame Annelet hatte ihn nicht einstellen wollen, sie suchte einen »jungen« Mann, worauf sie Allard auch ausdrücklich aufmerksam machte. Sie konnte ihr Geschäft nicht mehr selber führen. Das Wort »bettlägrig« trifft es am Besten - sie interessierte sich nur noch für das, was in ihrem Laden vorging. Was draußen auf der Straße passierte, juckte sie nicht mehr. Allard führte das Geschäft, bediente die Kunden und rechnete nicht nur die Kasse gegenüber Madame Annelet ab, sondern gab auch Auskunft darüber, welches Kunde welches Buch gekauft hatte.

Der Mann hatte sich nicht absichtlich in diesem Viertel niedergelassen, so war es wohl Zufall, dass er Spuren aus seiner Vergangenheit wiederfand. Diese Artefakte hatten einen Wandel durchgemacht - er hatte keinen Einfluss auf sie und wusste nicht einmal, ob die Menschen, die für ihn nur Rest waren, überhaupt von mir wussten, sich an ihn erinnern wollten. So näherte er sich diesen Menschen sehr vorsichtig.

Er »platzt« aber nicht damit heraus, was es denn ist, was ihn von diesen Menschen getrennt hat. Ziemlich früh berichtet er, dass er im Gefängnis war, aber weshalb und warum, darüber darf man sinnieren. Allard ist aus dem Gefängnis entlassen worden, saß aber in seinem eigenen Knast. So nimmt sich der Hund mit dem Namen Bib auch aus wie das Vögelchen von dem Gefangenen auf Alcatraz.