Über die Story

Wenn ich einen Vergleich für dieses Buch im Werk von Simenon finden müsste, so würde mir noch am ehesten Stammbaum einfallen. Wie in dem stark autobiographisch geprägten Werk Simenons beschäftigt sich hier der Roman sehr lang mit den Familiengeschichten. Das ist nicht uninteressant, ist für den Erzähler Simenon aber eher untypisch, bei dem man normalerweise mehr Handlung findet als Vergangenheit.

Hört man den Namen Steve Adams denkt man zuerst, der Roman wird sich in Amerika oder vielleicht in England abspielen (gibt es einen reinen England-Roman Simenons? – mir ist noch keiner untergekommen, wenn ich mich recht entsinne…), aber der Name ist eine Irreführung. Steve Adams hat einen englischen Vater, seine Mutter war aber eine reinrassige Französin und hat den Namen für ihren Sohn auch aus einer Art Protest heraus gewählt. Nichts ist in der Beziehung zwischen der Mutter und dem Vater gewiss, nicht einmal, ob Steve wirklich der Beziehung entsprungen ist. Der Vater, damals Stewart auf einer Schifffahrtslinie, kam von allen in Frage kommenden Kandidaten der Mutter vielleicht am Zuverlässigsten vor und deshalb wählte sie ihn aus. Durch die Wahl des Namens wurde dies noch unterstrichen.

In der Tat konnte sich Steve nicht beklagen. Der Vater war weit weg, kümmerte sich aber um den Unterhalt und holte ihn auch regelmäßig zu sich nach England, wo er eine eigene Familie gegründet hatte – eine typisch englische, wie vermerkt wird. Die Mutter kümmerte sich nicht um ihren Sohn. So blieb Steve bei den Großeltern und wurde dort von seiner Tante aufgezogen.

Sehr ausführlich wird die Geschichte der Familie erzählt. Das Hauptaugenmerk liegt dabei bei dem Großvater, der sich als Tagelöhner verdingte und mit einer gewissen Stetigkeit betrunken nach Hause kam. Dies änderte nichts an dem Respekt, dem ihm die Familie entgegenbrachte. Bevor der Vater nicht nach Hause kam, wurde nicht gegessen. Erst wenn der Mann das Haus betrat, gab es Licht. Er war der Mittelpunkt, gleichzeitig auch ein Fremder. Dieses Fremdsein war nicht nur im Wesen des Großvaters Barnabé Nau begründet, er kam auch noch aus einer ganz anderen Gegend: irgendwo in der Gegend um Evreux musste er aufgewachsen sein. Dieses doppelte Fremdsein sollte dem Großvater ordentlich zu schaffen machen.

Bezugspunkt für den Jungen war seine Tante Louise. Sie führte ihn durch einen Großteil seines Lebens. Er ging zur Schule und wurde erst dann von seiner Mutter entdeckt. Die hatte sich mittlerweile von einer Bedienung in einem Wirtshaus zu einer Haushälterin hochgearbeitet und war bei einem Richter in Niort angestellt. Das veranlasste sie, ihren Sohn ebenfalls nach Niort zu holen und dort in einem Internat unterzubringen. Sie versäumte es nicht, ihn in das Haus des Richters einzuladen und ihren Sohn dem Richter vorzustellen. Steve Adams hatte nichts gegen den Richter, er bemüht sich aber auch nicht darum, eine Beziehung zu dem Mann aufzubauen. Seine Besuche in dem Haus bleiben selten und er versucht, sie zu vermeiden.

Auf dem Buchrücken meiner Ausgabe ist davon die Rede, dass Steve Hoteldieb und danach einige überraschende Wendungen vollzieht. Ich hatte mir erhofft, dass auf diesen Teil stärker eingegangen wird. Simenon bereitet in dem Buch einiges vor, lässt den zweiten Teil dann aber sehr kurz kommen. Wie Steve Adams Hoteldieb wird, erzählt Simenon noch mit einer gewissen Ausführlichkeit, aber lang nicht mehr so ausführlich, wie er die Kindheit aufbereitet hat. Danach kommt es einem vor, als würde er die Stationen von Steve nur noch anreißen. Das insofern schade, weil eigentlich der zweite Teil, der Teil sein dürfte, der dem Begriff Grenzgänger noch viel mehr entsprach. Nimmt man es wortwörtlich, hat Steve mit seinen Besuchen beim Vater immer wieder die Grenzen überschritten. Die interessanteren Grenzübertretungen spielen in dem Buch nur eine unterordnete Rolle.

Das Wetter war nicht so berauschend und wir hatten uns entschlossen, an diesem Urlaubstag keine Ausflüge zu unternehmen. Das brachte mich dazu, dieses Buch an einem Tag auszulesen. Hätte ich die Lektüre über mehrere Tage verteilen müssen, wäre mein Lesefluss vielleicht ein anderer gewesen. Dieser Roman von Simenon ist sicher nicht ein Buch, welches man entsetzt weglegt (mein Lieblingsbeispiel hier für ist die Geschichte der letzten Tage eines armen Mannes), aber es kann ein Roman sein, den man immer wieder zur Hand nimmt, weil man ihn mal angefangen hat zu lesen. Richtige Freude beim Lesen der Geschichte kommt nicht auf. (Nun mag man einwenden, für Freude ist Simenon nicht bekannt, aber ich meine, für Freude am Lesen erzeugt durch eine gute Geschichte und Spannung, weniger im Sinne von einer gut ausgehenden oder lustigen Geschichte.)