Über die Story

Um elf Uhr vormittags griff Maigret zum Telefonhörer. Sein Anruf wurde erwartet, gehörte zur täglichen Routine dazu. Man sagte ihm, dass alles in Ordnung wäre, keine Veränderungen eingetreten wären. Maigret stapft daraufhin ein wenig durch die Stadt, über das Pflaster von Les Sables d’Olonne. Kehrt in das eine oder andere Bistro ein, um dann schließlich um kurz vor drei Uhr vor der Tür des Krankenhauses zu stehen. Er wartete bis es wirklich Punkt drei Uhr war, um dann einzukehren und auch hier den festen Ritualen seinen Tribut zu zollen. Er war nicht stolz darauf, hier einen anderen Namen zu haben, nicht Chef gerufen zu werden, sondern hier in diesem Krankenhaus war er schlicht »Monsieur 6«.

Auf dem Zimmer Nummer 6, das er seit Tagen besuchte, lag seine Frau, die kurz nach ihrer Ankunft in Les Sables d’Olonne operiert werden musste, und dabei war, zu genesen. Der Blinddarm war weg, die Urlaubsfreude auch. Aber Madame Maigret freute sich auf die Besuche ihres Mannes, auch wenn sie sich nicht viel zu sagen hatte. Wenn man es genau betrachtet, haben sich die beiden Menschen sehr wenig zu sagen. Da war es völlig egal, ob sie nun zu Hause am Boulevard Richard-Lenoir, in Meung-sur Loire oder hier in den Ferien waren. Es genügte, zusammen zu schweigen und sie fühlten sich wohl. Madame Maigret versuchte hin und wieder Neuigkeiten aus dem Klinikalltag zu erzählen, aber was gibt es groß zu berichten, wenn man den Großteil des Tages im Bett verbringt, zusammen mit einer Frau, die nicht der besten Laune war und deren Laune sich nicht verbesserte, wenn Maigret kam, denn es erinnerte sie daran, dass sie nie Besuch bekam. Im Krankenhaus war man, weil man krank war und versuchte, zu gesunden.

Nach einer halben Stunde meinte Madame Maigret dann zu ihrem Mann, so war es Tradition geworden, er müsse langsam aufbrechen und Maigret machte sich fertig. Er stapfte dann wieder durch die Straßen, kehrte in bestimmte Cafés ein, trank und aß etwas.

Das sollte sich ändern: nach einem dieser Besuche spürte er, dass sich etwas in seiner Jackentasche befand, dass dort nicht hingehörte. Ein Zettelchen:

»Aus Barmherzigkeit, bitte verlangen Sie die Patientin auf Zimmer 15 zu sprechen.«

Wie unangenehm. Maigret wurde ganz plötzlich aus seinem Trott gerissen. Über diesen Zettel galt es nachzudenken. Die Sprache konnte man nicht modern nennen, selbst damals nicht. »Barmherzigkeit« war ein Begriff, der viel in Kirchen und Klostern verwendet worden. Er würde den Begriff nicht verwenden, seine Frau auch nicht. Ein Streich vielleicht, der ihm von einer der Schwestern des kirchlichen Krankenhauses gespielt wurde? Das fand Maigret nun wirklich unwahrscheinlich, denn in diesem Krankenhaus ging es sehr ernsthaft zu.

Maigret beschließt, diesem Problem nachzugehen, aber frühestens am nächsten Tag. Seine Lust, sich mit einer wirren Geschichte, die sich als Luft herausstellte, zu beschäftigen, tendierten gegen Null. Da war ihm sein Müßiggang schon viel wert. Am nächsten Tag, der Besuch zur regulären Zeit, überrascht ihn seine Frau mit einer großen Neuigkeit: Das Mädchen, welches auf Zimmer 15 lag, wäre vergangene Nacht gestorben. Noch so jung.

Ach, mag sich Maigret gedacht haben und fängt an, nachzufragen. Im Krankenhaus, das wusste er, würde er keine Antworten bekommen. Mit dem Wenigen, was er weiß, fragt er mal hier da und mal da und merkt bald, dass er mit der Fragerei in ein Wespennest gestochen hat. Gestorben war die sehr junge Schwägerin von Doktor Bellamy – Hélène Godreau. Der Doktor ist angesehen, reich und einflussreich. Als Maigret arglos anfängt laut zu fragen, wird er ziemlich bald zurückgepfiffen. Dezent, aber zurückgepfiffen. Der Orts-Kommissar Mansuy erklärte Maigret, wie es zu dem Tod der jungen Frau kam: Doktor Bellamy war mit der Schwester seiner Frau auf dem Rückweg von einem Konzert, als plötzlich die Tür aufging und das Mädchen aus dem Auto fiel. Einfach so, glaubt Kommissar Mansuy. Maigret grübelt und kommt zu dem Schluss: Einfach so, wenn irgendjemand Zettel mit Barmherzigkeits-Aufrufen schreibt, sicher nicht. Da gab es etwas auszugraben.

Es mochte den Herrschaften von Les Sables d’Olonne nicht passen, sie mochten es vielleicht nicht einmal glauben, aber Maigret sah eine gute Möglichkeit seiner Langeweile zu entkommen. Der Doktor, den Maigret von seinen Beobachtungen des täglichen Bridge-Spiels in der Brasserie du Remblais kannte, kommt auf Maigret zu und bietet ihm an, sich zu unterhalten. Gegebenenfalls auch über den Tod seiner Schwägerin.

Dieses offensive Verhalten verblüffte Maigret ein wenig, aber er hat nichts gegen den Doktor. Nicht, dass Maigret den Arzt verstehen würde. Während er treu und brav, um es umunwunden auszudrücken, Tag für Tag zu seiner Frau marschiert, um sie im Zweifel anzuschweigen, weil Worte nicht wichtig waren, war der Doktor am Tag des Todes seiner Schwägerin, der ihn ja unmittelbar betreffen sollte, in der Brasserie anzutreffen, und spielte Karten. Gegenüber seiner Frau verhielt sich der Doktor gar nicht gleichgültig. Er ruft sie jeden Tag aus dem Restaurant heraus an, obwohl er den ganzen Tag mit ihr sprechen könnte. Schließlich pflegt der Arzt in seinem Haus zu praktizieren. Nach seinen Anrufen bei seiner Frau konnte man die Uhr stellen, und seine Mitspieler machten sich über Dr. Bellamy lustig, ohne das dieser es gemerkt hätte.

Der Arzt lässt sich schwer einschätzen, und das interessiert Maigret. Arzt und Polizist im Urlaub gehen gemeinsam durch die Stadt zu Dr. Bellamys Haus und unterhalten sich angeregt. Der Arzt ist der festen Überzeugung, dass er von Maigret des Mordes verdächtigt wird. Das mochte sogar sein, obwohl es der Kommissar nie aussprechen würde. Der Tod seiner Schwägerin war mit vielen Fragezeichen versehen, aber es konnte durchaus so sein, wie es der Arzt in seinen Vernehmungen bestätigt hatte. Im Haus des Doktors kommt es allerdings zu einem Zwischenfall, der Maigret sehr zu denken gibt und in dem er den Doktor zum ersteinmal ein wenig ratlos sieht. Kaum haben sie die Tür geöffnet, kommt ein Mädchen die Treppe heruntergehuscht, die offenbar nicht zum Haushalt gehörte und die dem Doktor fremd war. Es gab keine Gelegenheit, zu fragen, wer denn dieses junge Mädchen gewesen war, welches vom Stil nicht in die Klasse von Dr. Bellamy und seinen Konsorten passte.

Maigret ist der Meinung, dass das Mädchen ihm vielleicht die eine oder andere Frage beantworten könnte. Die Gelegenheit sollte sich dem Kommissar aber nie bieten. Da noch keine Ferienstimmung bei Maigret aufgekommen war, konnte er in seiner Ruhe auch nicht gestört werden: Aber einen Wettlauf gegen die Zeit hatte sich Maigret auch nicht gewünscht. Und zu diesem kommt es…