Über die Story

Unter diesem Titel kann man sich so Einiges vorstellen, aber eine Geschichte, die mitten in Frankreich spielt sicher nicht. Gut, wäre es kein Simenon, könnte man vielleicht sagen, aber bei Simenon als Afrika-Erfahrener erwartete ich eigentlich eine Geschichte aus Afrika. Nein, es ist die Geschichte eines Bahnhofsvorstehers. Und noch einmal nein, der titelgebende Schwarze ist nicht der Bahnhofsvorsteher.

Was mir einiges Kopfzerbrechen bereitet, ist die Frage, ob die Geschichte noch einmal unter diesem Titel erscheinen wird. Es macht sich hierzulande wie auch anderswo eine »political correctness« breit, die einem an Sinn und Verstand von dessen Vertretern manchmal zweifeln lässt. So war nicht vor allzu langer Zeit zu lesen und zu hören, dass das Theaterstück »Zwölf kleine Negerlein« in Hannover aufgeführt werden dürfte, aber bitte schön nicht unter diesem diskriminierendem Titel.

Es ist ja richtig, dass sich Werte mit der Zeit ändern. Ich finde es unbedingt gut, dass man Frauen das Wahlrecht gegeben hat. Es ist auch ein großer Fortschritt, dass man die Damen nicht mehr verbrennt oder ertränkt, wenn sie Dummheiten angestellt haben. Es ist ein Segen, dass unser Strafvollzug nicht auf Rache ausgelegt werden ist (womit ich Maigret-konform gehe) und habe nicht die geringsten Sympathien für Leute, die Sklaverei für ein hohes Gut halten und auf den ehemaligen Besitz mit Baseball-Schlägern eindreschen. Aber man sollte sich bei einem mittlerweile historischen Werk nicht an seinem Namen abarbeiten. In meinen Augen, ist es ein großer Unterschied, ob ich heute einen Menschen auf der Straße als »Neger« bezeichne, denn das ist ohne Zweifel abwertend, oder ob ich ein Kunststück aus einer vergangenen Zeit ausstelle oder aufführe. Also dürfen wir gespannt sein, wie das Buch demnächst heißen wird, wie wir überhaupt gespannt sein dürfen, wie demnächst Werke an die politische Korrektheit angepasst werden.

Womit wir zur Geschichte kommen: Theo führt nicht das, was man ein erfülltes Leben nennt. In seiner Jugend wurde ihm ein Auge ausgeschossen, das disqualifizierte ihn für eine staatliche Anzahl von Tätigkeiten, davon abgesehen, dass das bei den Frauen, und nicht nur bei denen, nicht so gut ankommt. Er hat bei der Bahn angefangen und hatte jetzt die respektable Stellung eines Bahnhofsvorstehers - eines klitzekleinen Ortes, aber immerhin. Der Mann weiß, dass es nicht das höchste ist und gibt sich auch nicht zufrieden. »Eines Tages werde ich es ihnen zeigen…« Diesen Satz wiederholte er immer wieder, ohne einen Plan zu haben, wie er es denn anstellen wollte. Mit diesem Spruch geht er Tag für Tag durch die Welt und erinnert an den komischen alten Kauz in »Zum Weißen Ross«, der immer wieder vor sich hinmurmelte, dass er eines Tage noch mal jemanden umbringen würde.

Soweit würde Theo nie gehen, auch wenn ihn seine Frau verlassen hatte, wobei ein gewisser Cadieu eine entscheidende Rolle gespielt hatte - nur war er nicht in der Position, gegen jemanden wie Cadieu anzugehen. So verbrachte Theo seine Tage damit, zwischen dem Bahnhof und der gegenüberliegenden Wirtschaft hin und her zu pendeln, um mit Gideon, dem Wirt, seinen Plausch zu halten. Hin und wieder kam dessen Tochter, auch etwas angejahrt und auf dem Weg zur Jungfer, herüber zu ihm und sie vergnügten sich miteinander. Theo hatte den Verdacht, dass Gideon davon wusste - der äußerte sich dazu nicht, so konnte es der Bahnhofsvorsteher als stille Zustimmung verstehen. An diesem bestimmten Abend hatte Theo keine Lust - er fertigte den letzten Zug ab. Da gab es keine besonderen Vorkommnisse, aus der Kleinigkeit, dass er den Eindruck hatte, dass sich im letzten Waggon jemand in die Sitze drückte, jemand den er nicht kannte - ein Neger. Bevor er einschlief, schaute er nochmals aus dem Fenster und sah - den Neger. Theo fragte sich noch kurz, wohin der Fremde wohl wollte, ließ es aber dabei bewenden.

Am nächsten Morgen sah alles ganz anders aus: der Fremde lag an der Böschung, tot. Man vermutete erst, dass er aus dem Zug gefallen wäre, aber die Theorie wird bald als abwegig abgetan. Theo ist gegenüber der Polizei einsilbig und erzählt nicht von seinen Beobachtungen. Er hat seine eigenen Schlüsse aus dem Vorgefallenen gezogen: der alte Patriarch des Dorfes war gestorben und die beiden Cadieus waren jetzt die Erben. Allerdings munkelte man etwas von einem Sohn, mit dem sich der Alte überworfen hatte, und der vor Ewigkeiten nach Afrika ausgewandert war. Wenn er dort geheiratet hatte und wenn er dort Kinder gezeugt hätte, vielleicht auch einen Schwarzen, dann gäbe es dort nach Erben. Das dürften den Cadieus ein Dorn im Auge gewesen sein. War der Neger nicht auf dem Weg dorthin gewesen.

Theo verfolgt den Fall sehr aufmerksam und hat seine eigenen Pläne: Mit dem Wissen, was er hatte, durfte es ein Leichtes sein, den eigenen Besitzstand ein wenig aufzubessern und es den Anderen ordentlich zu zeigen.

Man liest es, weil es interessiert - wie diese Geschichte, die mit einem Titel lockt, der überhaupt gar nicht in die Umgebung hineinpasst, in der diese Erzählung spielt: dem Norden von Frankreich. Als Einstiegslektüre ist das Buch nicht geeignet, da möge sich der Einsteiger etwas anderes suchen: vielleicht ist man nach einem kalten Winter auch dieser Simenonschen Typen, die anderen es mal richtig zeigen wollen, überdrüssig und wünscht sich einen erfreulicheren Charakter. Mag aber sein, dass es auch an der Geschichte selbst liegt.