Über die Story

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie Simenon den Leser mit wenigen Worten eine gewisse Atmosphäre vorspiegelt? Mit einer recht faulen Art, wenn ich das einmal so nennen darf, denn er spart sich Worte und verlässt sich auf Wissen und Fantasie seines Lesers. So finde ich es mehr als geschickt, einen Roman mit den Worten Man schrieb den 3. Dezember, und es regnete immer noch. beginnen zu lassen. Eigentlich ist alles klar, die Atmosphäre steigt vor dem geistigen Auge des Lesers auf, er weiß, in was für einer Umgebung er sich befindet. Kein freundlicher Frühlingsregen, keine Husche - es ist Herbst und es ist ein niederschmetternder Regen, der einen depressiv werden lässt, wenn er zu lang andauert.

Mit so einem Regen haben wir es in diesem Roman zu tun. Es regnete schon seit Wochen und die Menschen dürften das Gefühl haben, dass sie durchweicht sind. Trotzdem geht das Leben seinen Gang. Der Roman entführt uns nach La Rochelle. Die Stadt ist nicht nur depressiv, da der 3. Dezember der 20. Tag des Regens, seit zwanzig Tagen geht ein Schatten durch die Stadt und meuchelt alte Frauen: bisher hatte es sechs Frauen erwischt.

Die Geschichte wurde von Simenon zu erst in zwei Kurzgeschichten verarbeitet, die sich sehr ähneln - der Unterschied findet sich in Nuancen: im deutschsprachigen Raum sollte man die Erzählung »Der kleine Schneider und der Hutmacher« finden, seltener dagegen, da nur zweimal erschienen, »Selig sind die Sanftmütigen«. Würde der Roman Stoff im Schulunterricht sein, dann könnten die beiden Erzählungen den, ich drücke es mal positiv aus, effektiven Schülern eine große Hilfe sein (aber nein, die Lehrer müssen ja »Maigret und der Clochard« nehmen).

Es beginnt absolut harmlos: der Hutmacher Labbé macht sich auf dem Weg zur Kneipe. Ein treuer Begleiter ist ihm der Schneider Kachoudas, der nicht mit ihm geht, sondern hinter ihm. Der Schneider hält gehörigen Abstand, denn er - wie heißt es so schön - er spielt nicht in der selben Liga, wie der Hutmacher. Der kommt in die Kneipe, setzt sich an den Tisch in der Mitte und wird von den dort schon sitzenden Gästen, die wie immer Karten spielen, begrüßt, während die Ankunft des Schneiders hingenommen wird, aber keinerlei Reaktion hervorruft. Es würde etwas fehlen, wenn er nicht mit auftauchen würde, mehr aber nicht - kein freundliches Hallo, nichts. Der Hutmacher steigt ins Spiel ein, bekommt das Übliche zu trinken, der Schneider bestellt ebenfalls.

Irgendwann passiert das Unglück: der Schneider beugt sich, um dem Hutmacher ein Faden vom Anzug zu entfernen. Als er den Fussel in der Hand hält, merkt er, dass er es nicht mit einem Fussel zu tun hat, sondern mit einem Papierfetzen, der ein ausgeschnittenes Wort aus der Zeitung darstellt. Der Berufsreflex ist dem Schneider zum Verhängnis geworden. Kachoudas versteht, was es bedeutet: der Mörder, der seit Wochen durch die Stadt zieht und die alten Frauen ermordet, pflegt einen innigen Gedankenaustausch mit dem Reporter der Lokalzeitung. Dieser veröffentlicht seine Gedanken und Vermutungen publikumswirksam in der Zeitung (wo sonst auch?), kurz darauf erhält die Zeitung einen Leserbrief, in der ihr mitgeteilt wird, dass dieses oder jenes in der Betrachtung nicht stimmen würde. Der Schreiber schreibt aber nicht, er klebt seinen Brief zusammen. Somit ist der Hutmacher der Mörder.

Der Schneider steht vor einem Problem: wer würde ihm glauben, wenn er zur Polizei ginge und einen so ehrenwerten Bürger anzeigen würde. Labbé ist hochangesehen in der Stadt. Er gilt nicht als ehrgeizig, man hält ihm zugute, dass er mit seiner Frau zu tun hat, die seit Jahren gelähmt im Bett liegt. Das macht einen Mann mürbe. Kachoudas, ein Einwanderer mit sieben Kindern, der in seinem Beruf nicht Anzüge herstellt, sondern sie ausbessern darf, ist ein Nichts: die zwanzigtausend Francs, die für die Ergreifung des Täters ausgesetzt sind, sind in unerreichbarer Ferne. Schlimmer noch. Er wird zum Komplizen des Hutmachers, denn er weiß, dass der Hutmacher der Mörder ist und setzt andere alte Frauen der Gefahr aus, ermordet zu werden. Was für eine Zwickmühle für den armen Schneider…

Die Geschichte wird von Simenon nicht aus der Perspektive des Schneiders beschrieben, allein den Gedanken des Hutmachers dürfen wir folgen. Wie er an diesem 3. Dezember der Meinung ist, dass er die perfekten Verbrechen begeht. Wie dieses Denkmal, dass er sich selbst aufgestellt hat, langsam Risse bekommt, bis es ganz zu fallen droht. Der Leser erfährt, wenn er die Geduld hat (und die wird er haben), warum sich ein grundsolider Mann wie Labbé an den alten Frauen vergreift, die keiner Fliege etwas zu Leide tun.

Für Simenon-Touristen, die mal sehen wollen, wie der Schriftsteller geschrieben hat, wären vielleicht die Kurzerzählungen etwas. Jedem anderen kann ich nur empfehlen, diesen Klassiker unter den Non-Maigrets zu genießen. Claude Chabrol sagte, dass in diesem Buch nichts passiert. Da ist sehr viel dran: der Leser bekommt keine reißende Action geboten, kein einziger der Morde wird detailliert geschildert. Aber es ist so mit dem »3. Dezember« - der Leser kann sich seinen Teil denken.