Der Mann, der nicht durch den Kamin passte

Gibt es eine Geschichte über Maigret, die intimer ist als diese? Ich kann mich nicht erinnern. Maigret selbst hat sich zwar in seinen Memoiren ein wenig entblättert und das eine oder andere Preis gegeben. Die großen Gefühle waren da aber nicht, mehr Fakten und Anekdoten. Zudem hat er die Memoiren seinen Ghost-Writer Simenon einige Zeit nach dieser Geschichte schreiben lassen. 

Das Simenon in irgend einer Art und Weise gefühlsduselig wegen Weihnachten gewesen war, kann man eher ausschließen: Die Geschichte schrieb er im Mai in Carmel-by-the-Sea, ein wenig südlich von San Francisco. Weder die Zeit noch der Ort werden weihnachtliche Gefühle außer der Reihe bei dem Schriftsteller erzeugt haben.

Die Geschichte beginnt am Morgen des ersten Weihnachtstages. Maigret hatte sich (und ein wenig auch Madame Maigret) versprochen auszuschlafen und Madame Maigret wollte ihren Mann, wie an allen Feiertagen, mit einem Frühstück im Bett verwöhnen. Sie stand früher auf und organisierte frische Croissants. Der Kommissar auf Urlaub konnte aber nicht so lang schlafen, stand auf und betrachtete die schneelose, leere Straße, ließ den Abend zuvor Revue passieren. Er war mit seiner Frau im Theater und gern wären sie danach auf ein Festmahl in einem Restaurant eingekehrt. Aber alles war reserviert und so gingen sie nach Hause, machten nach Mitternacht die Bescherung für sich (Kaffeemaschine für sie, Pfeife für ihn) und begaben sich zu Bett. Für Weihnachten waren keine Besuche geplant, sie waren allein und fuhren auch nicht weg. 

Eine gewisse Wehmut erfüllte Maigret, wenn er daran dachte, dass Kinder zur gleichen Zeit wie er aufgestanden waren und aufgeregt die eingepackten Geschenke unter dem Weihnachtsbaum betrachteten. Sie waren allein.

Er mochte Frühstück im Bett nicht, da es ihn an Krankheit und Siechtum erinnerte. Deshalb war er aufgestanden, obwohl er wusste, dass es seine Frau mochte, ihn zu bemuttern.

Nach dem Kaffee

Wieder schaute der Kommissar auf die Straße und sah wie zwei Frauen sein Haus zustrebten. Die eine der beiden Frauen war entschlossener als die andere. Maigret sah an dem suchenden Blick der Entschlossenen und ahnte, dass sie zu ihm wollten.

»Was siehst du?«
»Nichts … Frauen …«
»Was tun sie?«
»Sieht so aus, als kämen sie hierher.«
Denn beide blieben mitten auf dem Boulevard stehen und blickten zu ihm hinauf.
»Man wird dich doch hoffentlich nicht am Weihnachtstag belästigen. Ich bin ja noch gar nicht mit dem Haushalt fertig.«
Das hätte niemand bemerkt, denn außer dem Tablett stand nichts herum, und auf den polierten Möbeln lag kein einziges Staubkorn.

Ein Weihnachtsfest in der Familie und mit Kindern, das wäre vielleicht schön gewesen. Aber Besuch um jeden Preis oder vielleicht noch Arbeit, das war Madame Maigret nicht recht. Gut verständlich, während ihr Mann bei seiner Arbeit unter Leuten ist, stände ihr ein Weihnachtsfest bevor, bei dem sie ganz allein wäre. Da konnte sie sich Schöneres vorstellen. 

Ihr Mann, noch nicht angezogen und auch keine Anstalten machend, sich für den Besuch schicklicher zu kleiden, fand die Wohnung wäre in hervorragendem Zustand und war gespannt, was die Frauen von ihm wollten. Natürlich gab er sich brummig.

An der Tür klingelte es und es waren die beiden Bewohnerinnen des gegenüberliegenden Hauses – Mademoiselle Doncœur und Madame Martin. Die Tonangebende war Mademoiselle Doncœur, die – so behauptete es zumindest Madame Maigret, die eine gute Beobachterin war und die Konkurrenz im Blick hatte – in Maigret verliebt war. 

Madame Martins Nichte Colette, die bei den Martins seit dem Tod ihrer Mutter lebte, hatte sich das Bein gebrochen und seitdem war das Mädchen mit seinem Gips ans Bett gefesselt. In der Nacht zuvor hatte sie Besuch vom Weihnachtsmann bekommen. Dieser hat ihr eine große Puppe geschenkt und sich so dann, ohne auch nur ein Wort mit dem Mädchen zu wechseln, an den Fußbodenbrettern zu schaffen gemacht. Colette hatte die Vermutung, dass er nicht durch den Kamin passen würde und sich deshalb durch den Fußboden Graben würde. Aber nach einer Weile verschwand der Weihnachtsmann unverrichteter Dinge.

Das schien eine wirklich interessante Geschichte zu sein. Denn Mademoiselle Doncœur bestätigte, dass sich jemand an dem Fußboden zu schaffen gemacht hatte. Der Vater des Mädchens hätte es sein können, aber der war selten in der Verfassung. Ob der sich an Weihnachten bei seiner Tochter blicken lassen konnte, war sehr fraglich, da er es vermied einen schlechten Eindruck auf das Mädchen zu machen. Der Onkel und Papa Nummer 2 war auf Dienstreise in Bergerac und es war nicht sehr wahrscheinlich, dass er sich einen solchen Scherz erlaubt hätte.

Aber in der Art und Weise, wie sich Madame Martin gab – eine Mischung aus Desinteresse, Abwiegeln und Kühle –, war es, die Maigrets Interesse erweckte. Er würde sich mal mit dem Mädchen unterhalten.

Angelogen

Colette glaubte noch an den Weihnachtsmann, da mochte die mit Maman Loraine angesprochene Tante behaupten, was sie wolle. Nun hatte sie auch den leibhaftigen Beweis an Heiligabend erlebt: Der Weihnachtsmann war zu ihr gekommen, hatte ihr eine Puppe gebracht und war dann weitergezogen. Was zu beweisen war!

Madame Martin war nicht da, als Maigret kam, um die Tochter zu befragen. Sie hätte noch Einkäufe zu erledigen und später hätten die Geschäfte zu, ließ sie dem Kommissar ausrichten. Der macht in der Wohnung das, was er immer gern tut. Er schaut hier nach, öffnet diese und jene Schublade und stellt dabei fest, dass reichlich Essen vorhanden wäre. Hatte die Frau ihn angelogen?

Sie kam nach einer Weile wieder und hatte Sachen eingekauft, die sie noch im Haus hatte. Maigret durfte nun feststellen, dass die Frau bei ihm zu Hause so gegeben hatte, wie sie war. In ihrem eigenen Reich verhielt sie sich genauso. 

War es wirklich clever, sich gegenüber einem Kommissar, der einen obskuren Vorgang beurteilen soll, gleichzeitig unsympathisch und lügnerisch zu geben? Im Falle von Maigret nicht.

Kurz und kurzweilig

Der Kommissar rief am Quai an und ließ Erkundigungen einholen: über den Mann, den Bruder, Madame Martin und und und. Nichts wollte Maigret riskieren, schließlich konnte das Mädchen in Gefahr sein. Wer wusste, wie der Weihnachtsmann am zweiten Abend aufgelegt sein würde.

So wurde es kein einsames Weihnachten für Madame Maigret. Da der Kommissar nicht ins Büro wollte, um zu arbeiten, ließ er die Zeugen zu sich kommen und verwandelte ihre Wohnung in einen Taubenschlag. Die Frau des Kommissars dürfte hin- und hergerissen gewesen sein. Allein war sie nicht, aber ihrer Vorstellung von Weihnachten entsprach es auch nicht. 

Aber da war das Kind und bei Kindern wurde Madame Maigret weich, wie man weiß.

Gut und gern hätte der Kommissar bestimmte Aspekte der Geschichte von Kollegen ermitteln lassen können. Vielleicht wäre es dann weihnachtlicher bei den Maigrets gewesen – aber den großen weihnachtlichen Höhepunkt, auf den hätte man dann verzichten müssen.

In der Vorweihnachtszeit ist eine gute Gelegenheit die Geschichte hervorzuholen. Sie bietet, was man in der Zeit gut gebrauchen kann: ein wenig Rührseligkeit, ein wenig Spannung, ein wenig vielleicht sogar zum Schmunzeln und für manchen sogar ein versöhnliches Ende. Nur Kekse gibt es nicht.